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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0108
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Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung

7

Der Offenbarungsglaube ist nach seiner Herrschaft von anderthalb Jahrtausenden
ständig schwächer geworden. Entweder ist er offen preisgegeben oder er verdeckt als
Fassade ein konventionelles Dasein. Selten noch hat er die einst hinreißende pneuma-
tische Kraft. Wohl ist heute eine Tendenz, zur Offenbarung zurückzukehren. Es kann
manchmal scheinen, als griffe man nach einem Strohhalm, wenn man sie glauben
will, aber doch eigentlich nicht glauben kann.
Die Probleme, an denen in der Welt unser aller Dasein hängt, sind Menschheits-
probleme geworden. Sie sind nicht mehr nur abendländisch und nicht nur christlich.
Eine Minorität der Menschheit hängt ihrer Aussage nach dem christlichen Offenba-
rungsglauben an. Dieser jedoch vermag in seinen bisherigen Gestalten nicht das Ethos
zu verwirklichen, das alle verbinden könnte. Für den Fortbestand der Menschheit aber
ist es unerläßlich, den Boden zu finden, auf dem alle Menschen, unbeschadet der ge-
schichtlichen Gestalt ihrer Glaubensüberlieferung, sich treffen können. Dazu bedarf
es der Klarheit von Denkungsart und Grundwissen, das wir gemeinschaftlich suchen
können. Diese Klarheit und der Wille zu ihr ermöglichen die grenzenlose Kommuni-
kation unter Menschen, in | der auch aus anderen Ursprüngen redlich verschieden ge- 3
glaubt und gelebt werden kann.
Die folgenden Überlegungen gehören der Besinnung an, die in Bezug auf Offenba-
rungsglauben und Philosophie seit Generationen im Gange ist. In der heute verschärf-
ten Situation möchten sie den Blick dorthin lenken, wo mit dem Zerbrechen des Of-
fenbarungsglaubens keineswegs der Nihilismus unausweichlich ist, wo vielmehr von
jeher und für immer das bleibt, wohin die Philosophie von ihrem Ursprung her weist.
Wer die Offenbarung nicht zu glauben vermag, braucht ihre Möglichkeit keines-
wegs überhaupt zu leugnen. Ebensowenig ist es notwendig, bei Verlust des Offenba-
rungsglaubens auch den ewig wahren Gehalt der Bibel zu verlieren.
Wenn in der geistigen und politischen Situation der Menschheit unserer Tage die
notwendige Verwandlung der biblischen Religion und der Philosophie uns fast greif-
bar vor Augen zu stehen scheint, so sind doch Überlegungen von der Art der hier fol-
genden keineswegs schon diese Verwandlung selber. Aber sie können vielleicht mit-
helfen, die Kräfte der Verwandlung zu ermutigen, die in zahllosen Menschen verborgen
sind und die wahrscheinlich nicht mehr von Propheten, Führern, Heroen, Gründern
ausgehen werden, sondern in den Menschen überall, in den Einzelnen, die sich tref-
fen, in der Anonymität des Tuns und des Sprechens wirklich werden.
 
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