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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0123
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Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung

nung anerkannt werden. Die Welt in der Vielfachheit und Eigengesetzlichkeit ihrer
Bereiche, der Mensch in seiner Humanität, die Kultur als der von ihm hervorgebrachte,
auf Gott bezogene Sinn seiner Gebilde und Einrichtungen durften sich entfalten (und
bekamen alle das Beiwort christlich). Die große Harmonie wurde möglich, obgleich
der Sündenfall mit seinen Folgen den tiefen Schatten warf. Der Sündenfall konnte al-
les Üble und Böse begreiflich machen, die Glaubenserkenntnis aber zugleich die Be-
freiung von ihm zeigen, ohne daß eine totale Verderbnis der Welt und des Menschen
behauptet und darum beide verneint werden mußten.
Aber im neutestamentlichen Denken lagen Motive (vom Protestantismus betont),
die anders lenkten. Die Welt wird in ihren Eigengesetzlichkeiten freigegeben als das
Reich der Sünde. Für die Ewigkeit gibt es die Rechtfertigung durch den Glauben. In
dieser Welt, die durch den Sündenfall radikal, ganz und gar verdorben ist, müssen
wir leben, indem wir den Eigenschaften der weltlichen Bereiche unterworfen sind
und in ihnen sündigen. Allein im Glauben, außerhalb der Welt in der Ewigkeit erlöst
zu werden, ist die Hoffnung, die hier in dieser Welt tapfer im unausweichlichen Sün-
digen sein läßt (pecca fortiter, Luther).62 Die Welt ist zwar nicht, wie in antiker Gno-
sis, geradezu ein feindseliges Gegenprinzip. Aber sie ist durch die Verderbtheit infolge
des Sündenfalls in dem jetzigen Zustand davon kaum wesentlich unterschieden. Die
ganze menschliche Geschichte gilt als eine Reihe der Akte menschlichen Hochmuts
und Eigenwillens. Eine Führung in der Welt kann es nicht geben außer dem Glau-
ben, der unabhängig von der Welt, in der Welt den Menschen zwar weltlich da sein,
aber über sie hinaus anderswo sein Leben haben läßt. Vernunft ist selber verdorben.
Wahr ist nur das weltlose einsame oder gemeinsam betende Bezogensein auf Gottes
Ewigkeit.
Solche Verantwortungslosigkeit gegenüber der Welt, die im Namen Gottes auftritt,
war unerträglich. Darum kehrten immer wieder die Versuche eines Denkens im Gan-
zen, das die Welt als Welt anerkennt. Darum lebt Thomas so kräftig bis heute. Darum
rp war man immer wieder ange | sprechen von philosophischen Denkungsarten, die, wie
Aristoteles den Nus, die Stoiker den Logos, das eine göttliche Prinzip dachten. Der
größte harmonisierende Versuch war der Hegels, umso eindrucksvoller, als er alle Ne-
gativitäten, alle Schrecken sieht und deutend hineinnimmt. Er läßt die Offenbarung,
für die Vernunft durchsichtig geworden und begriffen, aufgehen in dem vernünftigen
Gang des Geistes durch die Geschichte. Gott ist der Geist, die Vernunft, die im Grund
aller Dinge liegt. Dieser Geist ist einer und kommt, sich selbst entfaltend, in Natur,
Mensch und Geschichte zur Erscheinung. Auch der Glaube hat seinen Ort in der Stu-
fenreihe der Wahrheitsmomente, die sämtlich in dem einen spekulativen Denken der
Philosophie zur durchsichtigen Gegenwärtigkeit kommen. Alles ist versöhnt. Was im-
mer es gibt, es hat seinen Ort und sein Recht, seine Grenze und seine Aufhebung. Ver-
nunft ist nicht ein verderbtes, widergöttlich gewordenes Denken, nicht Auflehnung
gegen Offenbarung, sondern der eine allumfassende Ursprung.
 
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