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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0153
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52

Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung

erkennen als etwas, das wir nicht eigentlich »selbst« sind. Durch die Vergewisserung
der Subjekt-Objekt-Spaltung schwingen wir uns, in ihr bleibend, über sie hinaus.
Durch diese Loslösung gelangen wir erst in die Situation des Philosophierens, des-
sen Sinn von uns ein Schweben verlangt, orientiert am Boden, von dem wir uns lös-
ten, hin zur eigentlichen Wahrheit.
2. Die Einheit ist zerschlagen in mehrere Weisen des Umgreifenden. Diese sind
nicht aus einem Prinzip zu deduzieren. Die Welt ist vielmehr für die Wissenschaften,
das Sein des Umgreifenden ist für die Selbstvergewisserungzerrissen. Ist jedoch die Viel-
fachheit das letzte, dann wäre mit der Einheit auch die Wahrheit verloren.
50 | Aber die Vergewisserung des Vielen ist nicht Gleichgültigkeit gegen Einheit, son-
dern der Wille zur wahren Einheit. In jeder vorzeitigen, sich oft verführend darbieten-
den Einheit ist die Wahrheit selbst nicht erreicht. Durch die Erfahrung der Zerrissen-
heit werden wir, weil sie unerträglich ist, zu jener Einheit gedrängt, die durch keine
Frage mehr fragwürdig werden kann. Wir fragen nach der einen, wahren Einheit, weil
wir nur in ihr Ruhe gewinnen.
3. In der Ungewißheit, in der wir uns finden, hat das Leben einen Charakter, den
man mit dem Wort »es ist ein Experiment« falsch bezeichnet.132 Der veranstaltende Ex-
perimentator wäre selber Experiment und Experimentator zugleich. Wer aber den Ernst
seines Weges in der Welt dadurch preisgibt, daß er seine Entschlüsse insgesamt als Ver-
suche auffaßt und sich selbst als den Veranstalter im Hintergrund vermeintlich unbe-
rührt hält, der verliert die Möglichkeit der Treue im Übernehmen, der Geschichtlich-
keit in der Kontinuität. Er verliert das Selbstsein. Als nur Versuchender ist er selbst weder
für andere noch für sich da. Denn jenes sich vermeintlich im Hintergrund bewahrende
Ich, das nicht eintritt in seine Existenz, sondern alles nur als Vordergrund seiner Expe-
rimente behandelt, ist ein bloßer Punkt und eigentlich Nichtsein, in dem nichts geret-
tet wird. Wenn ein »substantieller« Skeptiker das vielleicht, uns unbegreiflich, tun
könnte, so will der philosophische Glaube sich vielmehr einsenken in das Dasein, um
in ihm geschichtlich mit anderer Existenz zum Selbst zu kommen.
Das Geschehenlassen des Lebens, als ob ich nicht dabei sei, scheint mit dem Ver-
zicht auf die Welt zugunsten eines »außer der Welt« (eines punktuellen Ich) der fakti-
sche Verlust der Existenz zu sein. Dann gibt es in der Praxis kein entscheidendes Ent-
weder-Oder mehr, keinen unbedingten Entschluß. Der »Entschluß« aber zur Wahl
jener Möglichkeit, durch die die Welt und das In-der-Welt-Sein gleichgültig werden,
wäre auch dann, wenn er realisiert wird, kein existentieller Entschluß mehr.
Denn ein Entschluß, der nicht in der Weltwirklichkeit entscheidet und wirkt,
scheint kein Entschluß der Existenz, sondern eines anderen Wunderlichen,14 eines in
der Kommunikation nicht Faßlichen, eines in jedem Umgreifenden unverläßlichen
Nichtseins eines »Ich« zu sein, eine Weise des Skeptizismus, der Nihilismus ist.
 
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