88
Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung
erkennt? Das ist ein Widerspruch, der ihm keine Ruhe läßt. Ist zu begreifen, warum er
auftritt?
Eine Antwort ist alt: Weil die Menge der Menschen gebunden ist an die Gewalt leib-
haftiger Realität, wirkt auf sie der Glaubensgehalt nur, wenn er solche Leibhaftigkeit
annimmt: in diesem Falle die Herkunft aus der Offenbarung Gottes. Daher ist der Of-
fenbarungsglaube und die Kirche, die von dieser Offenbarung ihre Autorität bezieht,
notwendig, um die rohen Menschen gleichsam zu pazifizieren. Der Weg scheint un-
umgänglich, um den angstvoll unselbständigen Menschen die Ruhe zu verschaffen.
Dann gilt es als eine psychologische und soziologische Notwendigkeit, die die Aner-
kennung des Offenbarungsglaubens als zweckmäßig erscheinen läßt. Er ist »Metaphy-
sik fürs Volk«.18
Diese Auffassung ist oberflächlich. Denn wenn diese Täuschung zum Heile des Zu-
sammenlebens einer im Glauben vereinten Gemeinschaft gelingt, so kann das doch
nur dadurch möglich sein, daß etwas Wahres verkehrt und so zur Annahme durch
Menschen, die weder Wahrheit noch Unwahrheit radikal ergreifen, geeignet wird. Wer
die Täuschungen und Selbsttäuschungen im kirchlichen Glaubensleben zu sehen
meint, muß, wenn er redlich bleibt, doch die Substanz spüren, die darin verborgen
und nur vielfach entartet und auch verloren ist. Ohne diese Substanz wäre die ganze
große historische Erscheinung völlig unbegreiflich. Und über die zum Teil vielleicht
verwerflichen Menschen, die nur in diesen Kleidern sich bewegen, ist es unmöglich
zu vergessen, welche eindrucksvollen, gegründeten, verläßlichen Persönlichkeiten
höchsten Ranges in dieser kirchlichen Glaubenswelt aufgetreten sind.
Daher ist für den, der den spezifischen Offenbarungsglauben weder hat noch ver-
88 stehen kann (und der sich darin auf eine nicht geringere | Überlieferung großer Men-
schen, die dafür stehen, gründen darf), die bessere Antwort (unter deren Voraussetzung
die erste oberflächliche einen begrenzten Sinn hat): daß in dem Offenbarungsglauben
durch die Leibhaftigkeit vielleicht etwas geschieht, das er, ohne die Anerkennung für
sich selbst, als mögliche echte Wahrheit für Andere respektieren soll.
Dann aber hat er das größte Interesse daran, wie sich der Offenbarungsglaube und
wie die so Glaubenden sich faktisch zeigen. Daher kämpft er mit ihnen nicht, um sie
zu vernichten, sondern nur damit Unreinheit, Täuschung und Falschheit fallen und
der eigentliche Offenbarungsglaube selbst möglichst überzeugend für sich spreche.
Was der Offenbarungsgläubige erwidert, wo er ohne Antwort läßt, wo er zornig wird,
wie er dabei als Mensch erscheint, was er tut, und wie er lebt, dies wird wichtiger als
das Prinzip des Offenbarungsglaubens selber. Der philosophierende Mensch möchte
hören, was immer vom Offenbarungsglauben in der Welt hörbar ist. Wenn er die Of-
fenbarung selbst nicht sehen kann, möchte er sie doch in ihren Folgen bei den Glau-
benden sehen. Wenn er Offenbarung nicht versteht, so möchte er doch mit Liebe zum
Menschen suchen, was dem Glauben an sie in der Welt entspringt. Von der Realität ei-
ner Offenbarung kann er sich nicht einmal ein Bild machen. Aber, wenn er im Respekt
Der philosophische Glaube angesichts der christlichen Offenbarung
erkennt? Das ist ein Widerspruch, der ihm keine Ruhe läßt. Ist zu begreifen, warum er
auftritt?
Eine Antwort ist alt: Weil die Menge der Menschen gebunden ist an die Gewalt leib-
haftiger Realität, wirkt auf sie der Glaubensgehalt nur, wenn er solche Leibhaftigkeit
annimmt: in diesem Falle die Herkunft aus der Offenbarung Gottes. Daher ist der Of-
fenbarungsglaube und die Kirche, die von dieser Offenbarung ihre Autorität bezieht,
notwendig, um die rohen Menschen gleichsam zu pazifizieren. Der Weg scheint un-
umgänglich, um den angstvoll unselbständigen Menschen die Ruhe zu verschaffen.
Dann gilt es als eine psychologische und soziologische Notwendigkeit, die die Aner-
kennung des Offenbarungsglaubens als zweckmäßig erscheinen läßt. Er ist »Metaphy-
sik fürs Volk«.18
Diese Auffassung ist oberflächlich. Denn wenn diese Täuschung zum Heile des Zu-
sammenlebens einer im Glauben vereinten Gemeinschaft gelingt, so kann das doch
nur dadurch möglich sein, daß etwas Wahres verkehrt und so zur Annahme durch
Menschen, die weder Wahrheit noch Unwahrheit radikal ergreifen, geeignet wird. Wer
die Täuschungen und Selbsttäuschungen im kirchlichen Glaubensleben zu sehen
meint, muß, wenn er redlich bleibt, doch die Substanz spüren, die darin verborgen
und nur vielfach entartet und auch verloren ist. Ohne diese Substanz wäre die ganze
große historische Erscheinung völlig unbegreiflich. Und über die zum Teil vielleicht
verwerflichen Menschen, die nur in diesen Kleidern sich bewegen, ist es unmöglich
zu vergessen, welche eindrucksvollen, gegründeten, verläßlichen Persönlichkeiten
höchsten Ranges in dieser kirchlichen Glaubenswelt aufgetreten sind.
Daher ist für den, der den spezifischen Offenbarungsglauben weder hat noch ver-
88 stehen kann (und der sich darin auf eine nicht geringere | Überlieferung großer Men-
schen, die dafür stehen, gründen darf), die bessere Antwort (unter deren Voraussetzung
die erste oberflächliche einen begrenzten Sinn hat): daß in dem Offenbarungsglauben
durch die Leibhaftigkeit vielleicht etwas geschieht, das er, ohne die Anerkennung für
sich selbst, als mögliche echte Wahrheit für Andere respektieren soll.
Dann aber hat er das größte Interesse daran, wie sich der Offenbarungsglaube und
wie die so Glaubenden sich faktisch zeigen. Daher kämpft er mit ihnen nicht, um sie
zu vernichten, sondern nur damit Unreinheit, Täuschung und Falschheit fallen und
der eigentliche Offenbarungsglaube selbst möglichst überzeugend für sich spreche.
Was der Offenbarungsgläubige erwidert, wo er ohne Antwort läßt, wo er zornig wird,
wie er dabei als Mensch erscheint, was er tut, und wie er lebt, dies wird wichtiger als
das Prinzip des Offenbarungsglaubens selber. Der philosophierende Mensch möchte
hören, was immer vom Offenbarungsglauben in der Welt hörbar ist. Wenn er die Of-
fenbarung selbst nicht sehen kann, möchte er sie doch in ihren Folgen bei den Glau-
benden sehen. Wenn er Offenbarung nicht versteht, so möchte er doch mit Liebe zum
Menschen suchen, was dem Glauben an sie in der Welt entspringt. Von der Realität ei-
ner Offenbarung kann er sich nicht einmal ein Bild machen. Aber, wenn er im Respekt