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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0239
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138

Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

daß die Theologie dieselben Gegenstände wie die Philosophie hat (mit Ausnahme der
Mysterien der Offenbarung und der Sakramente), aber diese Gegenstände nun in
Beziehung auf die im Lichte der durch Offenbarung gegebenen höheren Prinzipien
betrachtet.
Durch Thomas ist die Theologie als kirchliche Wissenschaft auf dem Boden der
Offenbarung im Gegensatz zur Philosophie als menschlicher Wissenschaft auf dem
Boden von Sinneswahrnehmungund Verstandesdenken konstituiert. In der Folge wird
dann Theologie zur allgemeinen Bezeichnung der kirchlichen Wissenschaft.
5P | Die scheinbar so klare thomistische Scheidung und Verbindung von Theologie
und Philosophie erwies sich als trügerisch. Es gab keine Ruhe. Das Denken und das
weltliche Erkennen brandeten unablässig gegen den Fels kirchlichen Denkens und un-
terhöhlten ihn. Ein neuer Rettungsversuch trat auf mit der Lehre von der doppelten
Wahrheit: Vernunft und Glaube haben keine Beziehung zueinander. Sie haben beide
in ihrem Felde recht. Sie können sich widersprechen, aber das ist gleichgültig, da die
eine Wahrheit im Bereich der anderen keine Geltung beansprucht. Praktisch hat die
Lehre von der doppelten Wahrheit, klar betont oder unklar verschleiert, in den folgen-
den Jahrhunderten bis heute eine große Rolle gespielt.
Die schöne, harmonische, unüberbietbar großartige Ordnung des Thomas bestä-
tigte die Welt und alle ihre Bereiche, dachte ihre Maße und Grenzen, ließ sie strahlen
in dem Glanze ihres Geschaffenseins. Sie ließ die Welt frei in jedem zu ihr gehörenden
positiven Sinn und hielt sie unter Führung des durch die Kirche sprechenden Gottes,
der die Welt gut geschaffen und außerdem sich selbst direkt offenbart hat. Nun konn-
ten, scheinbar ohne Widerspruch, Gott und Welt, Offenbarung und Vernunft, gebun-
den in ihre Rangordnung, anerkannt werden. Die Welt in der Vielfachheit und Eigen-
gesetzlichkeit ihrer Bereiche, der Mensch in seiner Humanität, die Kultur als der auf
Gott bezogene Sinn der menschlichen Gebilde und Einrichtungen durften sich ent-
falten (und bekamen alle das Beiwort christlich). Die große Harmonie wurde möglich,
obgleich der Sündenfall mit seinen Folgen den tiefen Schatten warf. Der Sündenfall
konnte alles Üble und Böse begreiflich machen, die Glaubenserkenntnis aber zugleich
die Befreiung von ihm zeigen, ohne daß eine totale Verderbnis der Welt und des Men-
schen behauptet und darum beide verneint werden mußten.
Aber im neutestamentlichen Denken lagen Motive (vom Protestantismus betont),
die anders lenkten. Die Welt wird in ihrer Eigengesetzlichkeit freigegeben als das Reich
der Sünde. Für die Ewigkeit gibt es die Rechtfertigung allein durch den Glauben. In die-
ser Welt, die durch den Sündenfall ganz und gar verdorben ist, müssen wir leben, in-
dem wir den Eigenschaften der weltlichen Bereiche unterworfen sind und in ihnen
sündigen. Allein im Glauben, außerhalb der Welt erlöst zu werden, ist die Hoffnung,
die hier in dieser Welt tapfer im unausweichlichen Sündigen sein läßt (Luther: pecca
60 fortiter).62 Die Welt ist zwar nicht, wie in antiker Gnosis, geradezu ein | feindseliges Ge-
genprinzip. Aber sie ist durch die Verderbtheit infolge des Sündenfalls in dem jetzigen
 
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