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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0269
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

dem Wege zu sich, aber auch heute noch nicht allgemein und zuverlässig angeeignet.
Gelehrte und Forscher verwirklichen sie manchmal nur auf ihrem eigenen Gebiet. Das
verbreitete und öffentliche Denken hat mehr an unkritischer Aufklärung als an dieser
wissenschaftlichen Verfassung teil.
Die universale Wissenschaftlichkeit ist nicht Universalwissenschaft. Als Universal-
wissenschaft trat lange Zeiten die Philosophie auf; sie besaß dementsprechend ein
Weltbild. Beides ist durch die moderne Wissenschaftlichkeit zerstört. Durch sie ist die
gesamte überlieferte Wahrheit gleichsam in einen anderen Zustand versetzt. Wie ein
einziges Hormon einen ganzen Organismus verwandelt, ohne ihn zu zerstören, so die
moderne Wissenschaftlichkeit das gesamte überlieferte Denken. Dieses muß in seiner
großen lebendigen Wahrheit nicht preisgegeben werden. Sie trägt unser Menschsein;
ohne sie würden wir uns selbst verlieren. Aber die moderne Wissenschaftlichkeit ist
da. Sie ist keineswegs tödlich, wo sie in Reinheit wirklich ist. Sie wird tödlich, wenn sie
abgewehrt wird. Denn dann können in einer Atmosphäre von Unredlichkeit, in einer
Verwirrung durch falsche Aufklärung die Glaubensursprünge der Philosophie und
Theologie in einem wissenschaftswidrigen Gewände sich nicht halten.
Beide müssen ihre Gestalt, ihr Selbstbewußtsein, die Klarheit ihrer Methoden un-
ter der Bedingung der neuen durch die universale Wissenschaftlichkeit entstandenen
Situation wandeln. Philosophie ist nicht mehr selber Wissenschaft. Sie ist ein selbstän-
diger Ursprung zwischen Wissenschaft und Offenbarungsglauben. Die Wahrheit die-
ses Satzes ist entscheidend für die Behandlung aller unserer Fragen.
(i) Die moderne wissenschaftliche Entwicklung: In den letzten Jahrhunderten wurden
folgende Schritte getan: Die moderne Wissenschaft stellte sich auf sich selbst, und
zwar am auffälligsten als mathematische Naturwissenschaft (der Repräsentant ist Ga-
lilei). Der tiefe Eindruck dieser neuen Erkenntnisweise, die durch mathematische Ent-
würfe und deren Bestätigung oder Widerlegung mittels Experiment und Beobachtung
97 vor sich geht, hatte zur Folge ihre Verabsolutierung zur einzigen Wissenschaft oder
wurde zum Vorbild für alle anderen.
Aber der Sinn der modernen Wissenschaft war von Anfang an umfassender. Er ist
die Idee des mit jeweils spezifischen Methoden vorgehenden, zwingenden und allge-
meingültigen Erkennens, das auf alles gerichtet ist, was uns in der Realität vorkommt,
gegenständlich und denkbar wird. Es bleibt stets partikular auf Dinge in der Welt ge-
richtet und schreitet ins Unendliche fort. Was auf diese Weise erkannt wurde, setzte
sich, als allgemeingültig richtig, im Unterschied von den meisten früheren Wahrheits-
behauptungen, auch faktisch allgemein durch. Nicht nur mathematische Naturwis-
senschaft, auch Biologie und Geschichte, die Gesamtheit der in keinem System end-
gültig zu ordnenden und abzuschließenden Wissenschaften gelangten auf diese Wege.
Überall trat nun die Spannung auf zwischen dem unmittelbaren Genuß, der schau-
end und denkend die sich darbietende Wirklichkeit formuliert, und der Exaktheit der
Wissenschaft, die eindringt, forschend untersucht, verstehend und kausal in ständi-
 
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