Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
177
Dieser Naturbegriff war allumfassend. Er ließ nichts außer sich, kannte keine andere
Möglichkeit. Auch das, was in christlicher Theologie als Gegensatz von Natur und
Übernatur auftritt, liegt in dieser einen »Natur«. Die Stoiker meinten die religiösen
Kulte, die Götter, die Magie, die Divination »natürlich« zu begreifen.
Diese stoische Seinsauslegung ist die historische Herkunft des so unbestimmten,
alle Gegensätze in sich schließenden, geläufigen Naturbegriffs. Wir eignen uns nur die
These an: Für das Philosophieren ist zugänglich, was Menschen überhaupt, überall in
der Welt, zugänglich ist, weil sie als Menschen der Welt, allem Sein und sich selbst of-
fen sind.
Demgegenüber ist eine Übernatur (oder Widernatur oder Unnatur), wie sie die
Theologie des Offenbarungsglaubens denkt, nicht in den Menschen als Menschen ge-
legt. Die Offenbarung kommt von außen, indem der Gott an einer Stelle in Raum und
Zeit sich offenbart. Der Mensch von sich aus kann ihn nicht finden. Denn er ist seiner
»Natur« nach nicht offen für diesen Gott. Gott zeigt sich ihm niemals, außer wenn er
in Beziehung tritt zu diesem Ort und dieser | Zeit und diesen Menschen, die historisch
da gewesen sind und ihn bezeugen. Durch den göttlichen Akt von außen wandelt sich
der Mensch in einer besonderen einzigartigen Weise der Umkehr, die Bekehrung heißt.
Nicht durch eigenen Vollzug, wie im Philosophieren, gelingt ihm die Umkehr. Er wird
ein neuer Mensch. Den anderen Menschen auf dem Erdball bleibt Offenbarung und
Bekehrung entweder aus dem Grund, daß die Verkündigung nicht bis zu ihnen ge-
drungen ist, unbekannt, oder sie wird ihnen nur äußerlich bekannt im staunenden
Blick auf den Bekehrungsvorgang, den sie nicht begreifen.
Das psychologische Verstehen reicht nicht dorthin, sondern trifft nur die allerdings
massenhaften Abgleitungen oder täuschenden Ersatzbildungen. Jenes Etwas, das im
Kern geschehen ist und geschieht, und das wir angesichts der außerordentlichen, für
uns faßlichen Folgewirklichkeit von Jahrtausenden nicht leugnen können, bleibt uns
fremd. Wenn wir für Augenblicke geneigt werden, es doch mit psychologischem Ver-
stehen als weltgeschichtliche Illusion aufzulösen, so spüren wir alsbald unser Versagen,
auch dann, wenn wir gegenüber manchen Realitäten, die sich christlich nennen, und
Menschen, die die Offenbarung zu glauben behaupten, recht haben mögen.
(3) In jedem Falle bleibt der Kern, den wir nicht begreifen, entgegen seinem uni-
versalen Anspruch, tatsächlich beschränkt auf Menschengruppen, die kirchlich orga-
nisiert sind. Sie behaupten den spezifisch heiligen Charakter ihres Glaubensinhalts
und ihrer damit zusammenhängenden religiösen Handlungen im Unterschied von
allem bloß Natürlichen.
Dabei geschieht das Merkwürdige: Die offenbarungsgläubige Theologie entnimmt
im Aufbau ihrer Glaubenserkenntnis der Philosophie, die sie »natürlich« nennt, die
meisten ihrer Denkformen und viele ihrer existentiellen Impulse. Was in diesem phi-
losophischen natürlichen Denken die Transzendenz, die Gottheit, das Umgreifende,
die Wirklichkeit heißt und in sublimen Gedankenoperationen seit den Anfängen der
108
177
Dieser Naturbegriff war allumfassend. Er ließ nichts außer sich, kannte keine andere
Möglichkeit. Auch das, was in christlicher Theologie als Gegensatz von Natur und
Übernatur auftritt, liegt in dieser einen »Natur«. Die Stoiker meinten die religiösen
Kulte, die Götter, die Magie, die Divination »natürlich« zu begreifen.
Diese stoische Seinsauslegung ist die historische Herkunft des so unbestimmten,
alle Gegensätze in sich schließenden, geläufigen Naturbegriffs. Wir eignen uns nur die
These an: Für das Philosophieren ist zugänglich, was Menschen überhaupt, überall in
der Welt, zugänglich ist, weil sie als Menschen der Welt, allem Sein und sich selbst of-
fen sind.
Demgegenüber ist eine Übernatur (oder Widernatur oder Unnatur), wie sie die
Theologie des Offenbarungsglaubens denkt, nicht in den Menschen als Menschen ge-
legt. Die Offenbarung kommt von außen, indem der Gott an einer Stelle in Raum und
Zeit sich offenbart. Der Mensch von sich aus kann ihn nicht finden. Denn er ist seiner
»Natur« nach nicht offen für diesen Gott. Gott zeigt sich ihm niemals, außer wenn er
in Beziehung tritt zu diesem Ort und dieser | Zeit und diesen Menschen, die historisch
da gewesen sind und ihn bezeugen. Durch den göttlichen Akt von außen wandelt sich
der Mensch in einer besonderen einzigartigen Weise der Umkehr, die Bekehrung heißt.
Nicht durch eigenen Vollzug, wie im Philosophieren, gelingt ihm die Umkehr. Er wird
ein neuer Mensch. Den anderen Menschen auf dem Erdball bleibt Offenbarung und
Bekehrung entweder aus dem Grund, daß die Verkündigung nicht bis zu ihnen ge-
drungen ist, unbekannt, oder sie wird ihnen nur äußerlich bekannt im staunenden
Blick auf den Bekehrungsvorgang, den sie nicht begreifen.
Das psychologische Verstehen reicht nicht dorthin, sondern trifft nur die allerdings
massenhaften Abgleitungen oder täuschenden Ersatzbildungen. Jenes Etwas, das im
Kern geschehen ist und geschieht, und das wir angesichts der außerordentlichen, für
uns faßlichen Folgewirklichkeit von Jahrtausenden nicht leugnen können, bleibt uns
fremd. Wenn wir für Augenblicke geneigt werden, es doch mit psychologischem Ver-
stehen als weltgeschichtliche Illusion aufzulösen, so spüren wir alsbald unser Versagen,
auch dann, wenn wir gegenüber manchen Realitäten, die sich christlich nennen, und
Menschen, die die Offenbarung zu glauben behaupten, recht haben mögen.
(3) In jedem Falle bleibt der Kern, den wir nicht begreifen, entgegen seinem uni-
versalen Anspruch, tatsächlich beschränkt auf Menschengruppen, die kirchlich orga-
nisiert sind. Sie behaupten den spezifisch heiligen Charakter ihres Glaubensinhalts
und ihrer damit zusammenhängenden religiösen Handlungen im Unterschied von
allem bloß Natürlichen.
Dabei geschieht das Merkwürdige: Die offenbarungsgläubige Theologie entnimmt
im Aufbau ihrer Glaubenserkenntnis der Philosophie, die sie »natürlich« nennt, die
meisten ihrer Denkformen und viele ihrer existentiellen Impulse. Was in diesem phi-
losophischen natürlichen Denken die Transzendenz, die Gottheit, das Umgreifende,
die Wirklichkeit heißt und in sublimen Gedankenoperationen seit den Anfängen der
108