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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0326
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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der Leibhaftigkeit Gottes. Leibhaftigkeit aber trifft für ihn nur zu auf Erscheinung in
Raum und Zeit. Die Einsicht in die Erscheinungshaftigkeit von allem, was in Raum und
Zeit ist, schließt die spezifische Realität Gottes in einer bestimmten Erscheinung für
ihn aus.
(6) Die große Frage ist: Kann, was seine leibhaftige Realität verliert, als nur spre- 168
chende Chiffer noch wirksam sein? Bewahrt die Chiffer eine Kraft des Erweckens und
Führens im Hinzeigen auf den Grund der Dinge, die der Kraft der Leibhaftigkeit ge-
wachsen oder gar überlegen ist?
Ein Beispiel: Die ewigen Höllenstrafen erzeugten eine gewaltige Angst und bändig-
ten. Hat ihre Chiffer noch Gewicht, wenn im Augenblick der Entscheidung nicht die
zukünftige Gefahr der Hölle droht, sondern die unvorstellbare Ewigkeit im Entschluß
zur Entscheidung drängt? Offenbart sich dann nicht vielmehr klarer und entschiedener
als unter dem Druck der Angst vor ewigen Höllenstrafen, daß das, was der Mensch tut,
ewiges Gewicht hat, daß er selbst sich gewinnt oder sich verlorengeht? Erfährt er Schuld
und Strafe nicht mehr zeitlich auseinandergelegt - jetzt die böse Tat, in Zukunft die
Hölle -, sondern im gleichen Tun vereint, als Offenbarwerden der Ewigkeit im Augen-
blick, des Unwiderruflichen, das in der Chiffer ewiger Höllenstrafen vorgestellt wird?
Es ist der Schritt aus der Sklaverei unter der Leibhaftigkeit der Vorstellungen und
unter den sinnlichen Ängsten zur Freiheit in den Raum der Chiffern. Dort finden die
existentiellen, ursprünglichen Entscheidungen dessen statt, was ewig ist.
Dann lebt, was Wahrheitsgehalt in der Leibhaftigkeit war, in den Chiffern nur um
so reiner fort. Die Entschiedenheit ist nicht mehr bestimmt durch Angst vor etwas,
sondern durch die ganz andere Angst der Freiheit selber um sich selbst und die Ewig-
keit. Was reine Chiffer wird nach Abwerfen der Leibhaftigkeit, wird nun erst wahr in
dem Raum, in dem Existenz sich zeigt durch ihr Tun.
Aber sind nicht alle diese Dinge, die einst Schreckgespenster oder falsche Beruhi-
gungen waren, zu Märchen geworden? Man glaubt sie doch nicht mehr in der Weise,
wie sie einst und anfänglich geglaubt wurden. Die große Frage des existentiellen
Schicksals ist in der Tat, ob wir nicht reiner, freier, ernster, kommunikativer glauben
könnten als je, auch wenn wir noch nicht so glauben.
In der Vergangenheit waren die Chiffern das Maßgebende. Ihre Kraft war es, die die
Glaubenden traf, die ihrerseits sie aus ihrem Glauben hervorbrachten. Die Leibhaftig-
keit war für die Menge, ohne daß von den denkenden Gläubigen, die Philosophen wa-
ren, die Frage nach ihr gestellt wurde. Die geistige Situation der früheren Zeitalter er-
zwang die Frage noch nicht, wenn sie auch vereinzelt auf treten konnte. Die öffentliche
Sprache war die Chiffernsprache. Sie war die | Luft des Lebens. Heute scheint es anders: 169
Die Chiffernsprache ist nicht mehr an die Leibhaftigkeit geknüpft. Diese ist in der rea-
listisch-wissenschaftlichen Welterhellung nicht unverändert aufrecht zu erhalten.
Leibhaftige Realität des Transzendenten stört jetzt den menschlichen Gang der
Dinge. Chiffern beflügeln ihn, den Gang der Liebe und der Vernunft.
 
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