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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0327
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226

Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

Die Leibhaftigkeit stärkt zwar die physisch-psychische vitale Kraft, aber sie
schwächt die Wahrhaftigkeit und damit die existentielle Kraft. Die Leibhaftigkeit ver-
mag sogar den eigentlich Nichtglaubenden zu halten. Die der Leibhaftigkeit entklei-
deten Chiffern aber reinigen den Glauben der freien Existenz.
Der Glaubenslose und der die Leibhaftigkeit Glaubende begnügen sich mit der
sinnlich gegenwärtigen Energie als solcher. Die freie Existenz braucht die Sprache der
Chiffern. Als sinnliches Vernunftwesen kann sie die Sprache nicht entbehren. Wie für
die Sprache überhaupt der sinnliche Anhalt des Sprechens notwendig ist, so für die Er-
hellung unserer transzendierenden Existenz das Vorstellen und Denken der Chiffern.
Was uns als Sinnenwesen unentbehrlich ist, gehört der Welt und der Zeit an. Aber in
ihm, das in der Wahrheit der transzendenten Wirklichkeit, in der Ewigkeit wieder ver-
schwindet, vergewissern wir uns dessen, was durch die Gestalt solcher Vergewisserung
nur für uns, nicht an sich ist.
Daß aber mit dem Wegfall der Leibhaftigkeit heute die Chiffernsprache selber ver-
kümmert, ist ein Unheil der Zeit. Die Luft, in der wir atmen, ist nicht nur dünn gewor-
den, sondern verunreinigt durch wissenschaftsabergläubische Vorstellungen. Die Ein-
sicht in das Wesen der Chiffern ist eine Voraussetzung für die Chance, daß die Chiffern
ihre existentielle Kraft und den Reichtum ihrer Sprache wiedergewinnen.
3. Geschichtlichkeit, Chiffer, Offenbarung
Der Offenbarungsglaube beruft sich auf die geschichtliche Offenbarung. Geschicht-
lichkeit, daher Einmaligkeit sei das Wesen der eigentlichen Wahrheit. Das Denken in
Chiffern spricht ebenso: nicht als allgemeine, sondern als geschichtliche Sprache
haben sie ihre Kraft.
Klarheit in bezug auf Geschichtlichkeit kann verhindern, daß die Offenbarung
170 durch eine philosophisch »natürliche« Geschichtlichkeit | scheinbar näher gebracht
und dadurch in ihrem Wesen verschleiert wird.
(1) Das Wort »geschichtlich« hat eine ungemein verschiedene Bedeutung. So heißt
erstens die Unendlichkeit und Unerschöpflichkeit alles Konkreten, das je eines ist, »In-
dividuum est ineffabile«. Zweitens heißt geschichtlich die Vielfachheit und unendliche
Mannigfaltigkeit des Geschehens. Es ist objektiv das Historische, wird erblickt und dar-
gestellt im Erinnerten und dokumentarisch Belegten und dadurch Gegenwärtigen. Es
ist eine Endlosigkeit. Keine Erinnerung hält fest, was alles geschehen und gewesen ist,
wer gelebt und was er getan hat. Der Zufall der in der Gegenwart bewahrten, wieder auf-
gefundenen, wieder ausgegrabenen Reste setzt dem geschichtlichen Erinnern eine
Grenze. Diese Reste selber aber sind schon endlos und in keinem erinnernden Kopf zu
vereinen. Die Auffassung und Darstellung des Übriggebliebenen ist gebunden an Wahr-
nehmungsfähigkeit, an Denkkategorien, an Interesse des jeweils Erinnernden. Drittens
heißt Geschichte eben dies, was je einzelnen Menschen oder Gruppen oder Völkern oder
 
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