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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0341
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

Das »Unbewußte« ist ein negativer Begriff, orientiert am Bewußten. Was es sei, wird
erschlossen. Von seiner Struktur und den Vorgängen in ihm werden Hypothesen ent-
worfen. Über deren Brauchbarkeit für psychologische Erkenntnis kann nur bei be-
stimmten Forschungen, nicht im allgemeinen entschieden werden?
Wird aber das Unbewußte verwandelt in eine positive Substanz, dann wird alles in sie hinein-
genommen. Im Unbewußten entdeckt man eine Welt, die schließlich als die eigentliche Wirk-
lichkeit gilt. Die Auffassung vollzieht eine Psychifizierung der Realität, ist von vornherein Me-
taphysik. Wenn das Unbewußte die Wirklichkeit selber ist, dann geschieht allein dort, was
eigentlich und wirksam geschieht. Das Bewußte ist nur Oberflächenerscheinung, der Schaum
auf einem tiefen Ozean des Unbewußten, Zeichen oder Symptom für das, was dort geschieht,
ohne eigene Macht als höchstens die der Störung des an sich unwiderstehlichen Geschehens.
Der Psychologe begreift es und kann das Denken und Verhalten lehren, wodurch das Dasein des
einzelnen Bewußtseins sein Glück findet im Einklang mit dem Unbewußten.
Träume, Wachphantasien, Werke der Dichtung und Kunst, die Mythen der Völker, Wahnbil-
dungen der Geisteskranken deuten sich gegenseitig, indem sie alle aus dem einen Grund des
Unbewußten als parallele Erscheinungen aufgebaut werden.
Während es sinnlos wäre, das Unbewußte zu leugnen (es ist der negative Begriff von all dem,
was nur das gemeinsam hat, nicht Bewußtsein zu sein), ist es sinnvoll, sich nicht täuschen zu
lassen von der Umwendung eines negativen Begriffs in einen positiven, insbesondere nicht von
der jeweiligen Konstruktion der Vorgänge, Stufen, Schwellen und Inhalte des Unbewußten.
Die mit der Psychoanalyse erwachsene Interpretation von Mythen und Symbolen ist faktisch
ihre Restitution im wissenschaftlichen Gewände. Sie kann der Sache nach keine Wissenschaft
sein. Sie dient zur Befriedigung so mancher sich verloren fühlender moderner Seelen. Soweit
187 der Einfluß auf Mythologen, Archäologen, Religionshistoriker, Literaturwissenschaftler | reicht,
entsteht ein Denken, das zweideutig zwischen Wissenschaft und Gnostik schwankt. Denn diese
ganze Denkungsart ist wie eine Wiederholung des Denkens und Sichverhaltens spätantiker Zau-
berer, Propheten, Sektenstifter. Es begegnet uns ein wunderliches Durcheinander: einmal die
Masse materialer Kunde, ein wenig wirkliche Wissenschaft, dann die wissenschaftliche Manier,
vor allem aber die Ergriffenheit von einer Tiefe, die Hingerissenheit von dort, und schließlich
das überlegene Bewußtsein heller Einsicht in das Wesen der Dinge. Es kann den Eindruck ma-
chen, als ob hier aus einem Ursprung, wenn auch befangen, ein aneignendes Lesen der Chif-
fern stattfände. Dann aber ist der Eindruck, hier tobe sich bei verschüttetem Ursprung aus das
Begehren nach ihm, und zwar in einer inhaltlich verworrenen, mit beliebigen Deutungen und
Umdeutungen ins Endlose sich ergehenden Bewegung. Es weht uns in der unbestimmt dogma-
tischen Grundverfassung eine Ratlosigkeit im Denken wie in der Praxis an im Kleide von weiser
Ruhe, äußerster Empfindlichkeit für die eigene Geltung, verachtendem Zorn, von einer univer-
salen Aggressivität, die negativ bleibt, weil in ihr nichts verteidigt wird.
Dies ist ein Aspekt moderner Gegnerschaft gegen die Philosophie, ihrer selbst unbewußte,
der Rettung bedürftige Pseudophilosophie, weil ihr Denken in der Gestalt der Lehren den Den-
kenden auf den Weg führt, sich als Existenz preiszugeben und damit die Transzendenz ver-
schwinden zu lassen. Ihre Interpretationen werden zwar zum Teil wissenschaftlich ergiebig,

Meine »Allgemeine Psychopathologie«, siebente Auflage T959. Springer-Verlag.
 
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