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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0560
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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d. Der Mensch als Aufgabe seiner selbst
Die Frage nach dem Menschen ist mit dem Menschsein selbst gegeben. Sie erfährt un-
ter neuen Daseinsbedingungen neue Antworten. Die Frage würde aufhören, wenn der
Mensch als er selbst versinken würde in bloßem Dasein.
Woher kommen wir Menschen? Was ist der gegenwärtige Sinn, was ist das Ziel un-
seres Lebens, des Einzelnen, der Völker, der Mensch|heit? Welches sind unsere Mög- 462
lichkeiten und unsere Grenzen? Was sind wir eigentlich? Welches ist unsere Stellung
in der Welt? Was ist unsere jeweils bestimmte Aufgabe?
Die Frage war fast vergessen in der Ruhe der gebildeten, der konventionell-christ-
lichen, der den Ursprung ihrer Freiheit verlierenden und sie verderbenden bürgerli-
chen Welt. Sogar in einer nur ahnenden, nicht ernst werdenden, daher unfruchtba-
ren Unruhe blieb sie vergessen. Es genügten die Selbstverständlichkeiten der Tätigkeit
und der den Ernst verhindernde Weltschmerz, dessen Typus Schopenhauer war. Auch
wurde die Frage fortgeschoben: laßt uns nicht denken, es führt zu nichts! Aber sie läßt
sich nicht zum Schweigen bringen. Heute ist die Frage, bedrängender als je, wieder da.
(1) Die Situation der Freiheit ist bewußt geworden:
Hat die moderne Befreiung zur Freiheit geführt? Bisher hat sie keineswegs frei ge-
macht. Sie hat die Möglichkeit geschaffen, zur Freiheit zu gelangen, aber sie noch nicht
verwirklicht.
Es kann vielmehr so aussehen: Die radikalste Befreiung, die wir kennen, die in un-
serem Zeitalter, kann die Freiheit des Menschen überhaupt vernichten. Was war die
Freiheit vor dieser Befreiung? Dorthin möchten wir den Blick gewinnen, um die Mög-
lichkeit zu spüren, diese unreflektierte, gleichsam in ihrer Wahrheit noch träumende
Freiheit nach der Befreiung in reinerer Gestalt zurückzugewinnen.
Genügt es, daß Einzelne frei werden, wenn die Völker ihnen nicht folgen konnten
und nie werden folgen können? Es genügt nicht nur nicht, es wird immer weniger
überhaupt möglich sein. Denn in den früheren, immer noch lockeren Zwangsordnun-
gen konnte der Wille zur inneren Freiheit Einzelner nie erdrückt werden, weil ihnen
Raum blieb. Das technische Zeitalter aber vermag diese Erdrückung auch der inneren
Freiheit zu vollenden.
Alles liegt daran, daß Freiheit die Freiheit erweckt. Jeder Einzelne kann nur in dem
Maße frei werden, als um ihn herum freie Menschen sind. Wenn man zweifelt und
meint, die Menschen seien nicht fähig, frei zu werden, so ist die Antwort: Wer auf dem
Wege der Freiheit ist, die Transzendenz und sich selbst erfährt, der kann nicht glau-
ben, daß der Weg unmöglich sei. Sein eigenes Leben selber ist ihm das Wagnis darauf-
hin, daß Freiheit möglich ist. Dieses Wagnis nicht einzugehen, bedeutet, daß jene Ein-
zelnen ersticken, die bisher die Geschichte des Abendlandes sind. Sie gaben ihr die
Höhen, bezeugten in Taten, in Schöpfungen und Einsichten, was der Mensch vermag.
| Glaube und Freiheit würden gemeinsam erlöschen. Nur miteinander können 463
sie wirklich bleiben. Würde die Selbstzerstörung der Freiheit die Folge der gegenwär-
 
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