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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0586
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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und heller Glaube, apokalyptische Geschichtsvision und ewige Gegenwart, Verklä-
rung gemeiner Leidenschaften und Reinheit des Lebens, Naturjubel und Askese.
Die Bibel ist reich wie das Leben selber. Sie ist nicht das Dokument eines einzigen
Glaubens, vielmehr ein Raum, in dem, bezogen auf die Tiefe des Göttlichen, Möglich-
keiten des Glaubens miteinander kämpfen. Sie gewinnen dabei den höheren Rang,
überhaupt ernst zu sein. Sie führen auf die Höhepunkte des Glaubens und sprechen in
unersetzlichen Chiffern.
| (e) Die Bibel ist voller Widersprüche. Unvereinbare geistige Mächte, Lebensan- 495
schauungen, Weisen der Lebenspraxis treffen sich in diesem Buch der Bücher. Im Um-
gang mit der Bibel ist es wie im Umgang mit dem Leben. Man muß sich in den Wider-
sprüchen bewegen, um teilzugewinnen an der Wahrheit, die nur durch sie heller wird.
Diese Widersprüche haben die Kraft des Denkens durch alle Zeiten herausgefordert,
sie zu überwinden durch Deutungen (etwa eines mehrfachen Sinnes von Sätzen) in Aus-
gleichungen und Kombinationen. Man suchte die widerspruchslose Einheit des Glau-
bens, hat sie in Theologien vorzeitig behauptet und rational entworfen. Von der christ-
lichen Kirche wurde durch ihre Dogmatik Christus, der Gottmensch, die Einheit, auf die
alles bezogen und im Verständnis vergewaltigt wurde (und dieser Christusglaube selber
wurde nicht einheitlich, sondern geriet in die dogmatischen Spaltungen). Es gibt weder
eine historisch feststellbare noch eine begrifflich fixierbare Mitte des biblischen Erfah-
rens und Denkens. Darin liegt ein Zug der gewaltigen, lebenerzeugenden, den existen-
tiellen Ernst erweckenden, mit unverlierbaren Chiffern erfüllenden Macht der Bibel.
Auch die Einheit des innerhalb der Bibel besonderen christlichen Glaubens im
Neuen Testament ist historisch nicht feststellbar. Es liegt nur der Tatbestand vor, daß
an sie geglaubt wurde und dieser Glaube mit der Kanonisierung der ausgewählten
Schriften seinen Gegenstand mit den in ihm liegenden Widersprüchen fixierte. Die
Einheit sehen wir faktisch nur in der Kirche, in ihrem Willen zur Einheit, in ihrer Rea-
lität. Sie wurde das Kristallisationszentrum, unter dessen Entscheidungen sich gnos-
tische Gedanken, stoisches Ethos, griechische Spekulation zusammenfanden, um die
biblische Substanz zu durchdringen und zu umspielen.
Ist aber der Wille zur Einheit, der sich im Laufe der Zeit - allerdings unter immer
neuen Spaltungen und Abspaltungen - durchsetzte, auch das Zeichen der Einheit die-
ser Glaubenswahrheit und ihrer einen, einzigen Wahrheit? Keineswegs! Zwar ist die
soziologische Ermöglichung einer Einheit durch die Kirche das relativ Dauerhafteste
in der Welt, aber dabei wurde die Ursprünglichkeit des Glaubens unter die Bedingung
des Kirchenglaubens (des Glaubens an die Kirche als corpus mysticum Christi) gestellt
und verwandelt oder vergessen. Die Wahrheit selber aber liegt nicht primär im sozio-
logisch Realen der Kirche und des Glaubens an sie, sondern in der Vielfachheit des
Chiffernlesens durch ursprünglich verschiedene Existenzen.
| (f) Die Zerschneidung der Bibel in einen jüdischen und einen christlichen Teil, 496
wobei im Alten Testament das Christliche herausgenommen, das andere verworfen
 
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