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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0594
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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ist nicht mehr, was der Offenbarungsgläubige in ihr meinte. Der Theologe wäre vom
Philosophen jedenfalls dadurch unterschieden, daß er die Chiffer der Offenbarung in
ihrer ganzen Mächtigkeit entfalten würde.
| Die Paradoxie im Aussprechen ist unaufhebbar: Was im Gehalte der Offenbarun- 505
gen liegt, würde durch Abstreifung der Offenbarungsrealität reiner und wahrer. Die
Offenbarungsrealität als solche würde eine Chiffer von Gottes Gegenwart und dem
Gehalte ein außerordentliches Gewicht verleihen.
Wäre es möglich, Offenbarung als solche zur Chiffer werden zu lassen, dann würde
eine Wandlung des Offenbarungsglaubens einsetzen. Vielleicht war diese jederzeit
auch schon da. Für das allgemeine Bewußtsein unseres Zeitalters scheint sie notwen-
dig. Dann würden Dogmen, Sakramente, Kulte gleichsam in einen Schmelztiegel ge-
raten, der sie nicht vernichtet, aber in andere Formen ihrer bewußten Verwirklichung
bringt. Diese würden das Medium werden, in dem der biblische Glaube aus seinem
ganzen Ernst, und nicht nur in kultischen, meditativen Befriedigungen und nicht in
kirchlicher Geborgenheit und gar nicht mehr in konventionellen Akten, noch einmal
seine beschwingende, folgenreiche und glaubwürdige Erscheinung findet. Die Ver-
wandlung würde unter den Bedingungen unseres Zeitalters, seines neuen Wissens und
seiner neuen Weltlage, auf eine Weise stattfinden, die in der Natur der Sache liegt.
Nicht die Substanz, aber die Erscheinung im Bewußtsein ändert sich. Philosophie und
Theologie würden auf den Weg gelangen, wieder eins zu werden.
Ein solches Ziel, so leicht hingesagt, ist nicht Gegenstand eines Planes. Nur mit un-
bestimmten Hoffnungen kann ein Philosophierender in diese Richtung blicken. Er
muß sich dabei bewußt bleiben, daß in der leibhaftigen Offenbarung, deren Leibhaf-
tigkeit ihm selber nur Chiffer ist, für manchen Bekenntnisgläubigen vielleicht ein an-
deres Geheimnis liegt, das er nicht einmal zu ahnen vermag.
Wenn die Offenbarungsrealität als Chiffer gilt, dann ist sie nicht mehr herausge-
hoben aus der Chiffernwelt im ganzen. Sie wäre die Chiffer, die die grenzenlose Sehn-
sucht des Menschen, daß Gott selbst real gegenwärtig würde, einen Augenblick gleich-
sam als erfüllt ansehen ließe, um sogleich in die Härte und Größe seines geschaffenen
Freiseins zurückzutreten, für die Gott unerbittlich verborgen bleibt.
Kein Theologe, so höre ich, kann die Verwandlung der Offenbarung in Chiffer mit-
vollziehen. Er würde das Fundament seines Glaubens und Denkens zerstören. Die Ant-
wort: Vielleicht können es die heute geltenden Theologen nicht, die nicht selten her-
vorragende historische Forscher, als Theologen späte Epigonen sind. Sie halten
glaubend fest, ohne in ihrer Glaubenskraft noch das Pneuma zu spü|ren. Vielleicht 506
aber sind zu dieser Wandlung moderne Menschen fähig, die, nicht gewillt, sich ihnen
fragwürdigen Glaubensdogmen oder dem landläufigen aufgeklärten Nihilismus zu un-
terwerfen, aus ihrer wirklichen gegenwärtigen Situation die Chiffern ergreifen.
Wenn Theologen die Verwandlung der Offenbarungsrealitäten in Chiffern nicht mit-
vollziehen, so erscheint das dem Philosophierenden wie ein ungewollter, seiner selbst
 
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