500
Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
uns vertritt das neutestamentliche Christentum in vollem persönlichen Ernst, so we-
nig wie ich das tue ,..«622
Kierkegaards erbarmungslose Anprangerung der kirchlich-christlichen Realitäten
wiederhole ich nicht. Für ihn ist heute der Pfarrer, jeder Pfarrer und Theologe, eine an
sich verlogene, weil unchristliche Figur. Am Maßstab der Forderungen des Neuen Tes-
taments beurteilt er als Füge: die Konfirmation, die christliche Trauung, das christliche
Familienleben, die christliche Kindererziehung.623
514 Nun aber das Merkwürdige und Wesentliche und eigentlich Mo | derne: Kierkegaard
kämpft in diesem Kampf nicht als Christ für das Christentum, sondern als Mensch für
die Wahrhaftigkeit. »Ganz einfach: Ich will Redlichkeit... Ich bin weder Milde noch
Strenge - ich bin menschliche Redlichkeit.«624
Will die Mitwelt »sich ehrlich, vorbehaltlos, offen, geradezu gegen das Christen-
tum empören, zu Gott sagen: Wir können, wir wollen uns nicht unter diese Macht
beugem - aber wohlgemerkt, tut man das ehrlich, redlich, vorbehaltlos, offen, gera-
dezu: nun gut, wie merkwürdig es scheinen mag, ich bin dabei: denn Redlichkeit will
ich. Und überall, wo Redlichkeit ist, kann ich mitgehen.«625
Daher tritt Kierkegaard - trotz der Risiken, die er tatsächlich einging - ausdrücklich
nicht als Märtyrer für das Christentum auf: »Für die Redlichkeit will ich wagen. Hin-
gegen sage ich nicht, daß ich für das Christentum wage ... Ich würde kein Opfer für das
Christentum sein, sondern weil ich Redlichkeit wollte.«626
In dieser Erfüllung seiner Aufgabe fühlte Kierkegaard sich gewiß. »Und mit mir ist
der Allmächtige; und er weiß am besten, wie zugeschlagen werden soll, damit man
spürt, daß das Gelächter, gebraucht in Furcht und Zittern, die Geißel sein muß - dazu
werde ich benutzt.«627
Die radikale Wahrhaftigkeit aber ist selber eine Forderung des Christentums (hierin
stimmen Nietzsche628 und Kierkegaard überein): »Da aber das Christentum Geist ist,
Nüchternheit des Geistes und Redlichkeit der Ewigkeit, ist natürlich für seinen Poli-
zeiblick nichts verdächtiger als alle phantastischen Größen: Christliche Staaten,
christliche Lande, ein christliches Volk, eine - wunderlich! - eine christliche Welt.«629
In all diesem sieht Kierkegaard »ein ungeheuerliches Kriminalverbrechen verborgen
... fortgesetzt von Geschlecht zu Geschlecht[«]630... [»]es geht darum, Licht zu bringen,
in dieses Jahrhunderte hindurch fortgesetzte ... christliche Kriminalverbrechen, wo-
durch man scharfsinnig ... versucht hat, das Christentum Stück für Stück Gott abzu-
listen, und es dahin gebracht hat, daß das Christentum genau das Gegenteil dessen ist,
was es im Neuen Testament ist.«631
Zu dem, was Kierkegaard sagt und tut, hören wir jederzeit, anfangend in seiner Ju-
gend, auch seine Selbstauffassung. Diese ist ein Element seines Tuns selber und daher
für uns von so merkwürdig bezwingendem Charakter:
»Ich bin nur ein Dichter«, sagt er, wenn er von den großartigen Entwürfen der
5J5 menschlichen Existenzverhältnisse bis zu seiner Kon| struktion des Christentums hin
Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung
uns vertritt das neutestamentliche Christentum in vollem persönlichen Ernst, so we-
nig wie ich das tue ,..«622
Kierkegaards erbarmungslose Anprangerung der kirchlich-christlichen Realitäten
wiederhole ich nicht. Für ihn ist heute der Pfarrer, jeder Pfarrer und Theologe, eine an
sich verlogene, weil unchristliche Figur. Am Maßstab der Forderungen des Neuen Tes-
taments beurteilt er als Füge: die Konfirmation, die christliche Trauung, das christliche
Familienleben, die christliche Kindererziehung.623
514 Nun aber das Merkwürdige und Wesentliche und eigentlich Mo | derne: Kierkegaard
kämpft in diesem Kampf nicht als Christ für das Christentum, sondern als Mensch für
die Wahrhaftigkeit. »Ganz einfach: Ich will Redlichkeit... Ich bin weder Milde noch
Strenge - ich bin menschliche Redlichkeit.«624
Will die Mitwelt »sich ehrlich, vorbehaltlos, offen, geradezu gegen das Christen-
tum empören, zu Gott sagen: Wir können, wir wollen uns nicht unter diese Macht
beugem - aber wohlgemerkt, tut man das ehrlich, redlich, vorbehaltlos, offen, gera-
dezu: nun gut, wie merkwürdig es scheinen mag, ich bin dabei: denn Redlichkeit will
ich. Und überall, wo Redlichkeit ist, kann ich mitgehen.«625
Daher tritt Kierkegaard - trotz der Risiken, die er tatsächlich einging - ausdrücklich
nicht als Märtyrer für das Christentum auf: »Für die Redlichkeit will ich wagen. Hin-
gegen sage ich nicht, daß ich für das Christentum wage ... Ich würde kein Opfer für das
Christentum sein, sondern weil ich Redlichkeit wollte.«626
In dieser Erfüllung seiner Aufgabe fühlte Kierkegaard sich gewiß. »Und mit mir ist
der Allmächtige; und er weiß am besten, wie zugeschlagen werden soll, damit man
spürt, daß das Gelächter, gebraucht in Furcht und Zittern, die Geißel sein muß - dazu
werde ich benutzt.«627
Die radikale Wahrhaftigkeit aber ist selber eine Forderung des Christentums (hierin
stimmen Nietzsche628 und Kierkegaard überein): »Da aber das Christentum Geist ist,
Nüchternheit des Geistes und Redlichkeit der Ewigkeit, ist natürlich für seinen Poli-
zeiblick nichts verdächtiger als alle phantastischen Größen: Christliche Staaten,
christliche Lande, ein christliches Volk, eine - wunderlich! - eine christliche Welt.«629
In all diesem sieht Kierkegaard »ein ungeheuerliches Kriminalverbrechen verborgen
... fortgesetzt von Geschlecht zu Geschlecht[«]630... [»]es geht darum, Licht zu bringen,
in dieses Jahrhunderte hindurch fortgesetzte ... christliche Kriminalverbrechen, wo-
durch man scharfsinnig ... versucht hat, das Christentum Stück für Stück Gott abzu-
listen, und es dahin gebracht hat, daß das Christentum genau das Gegenteil dessen ist,
was es im Neuen Testament ist.«631
Zu dem, was Kierkegaard sagt und tut, hören wir jederzeit, anfangend in seiner Ju-
gend, auch seine Selbstauffassung. Diese ist ein Element seines Tuns selber und daher
für uns von so merkwürdig bezwingendem Charakter:
»Ich bin nur ein Dichter«, sagt er, wenn er von den großartigen Entwürfen der
5J5 menschlichen Existenzverhältnisse bis zu seiner Kon| struktion des Christentums hin