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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0606
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung

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Tode, Philosophische Brocken, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift) mit
persönlichem Dabeisein studieren. Kann man in unserem Zeitalter noch selbstver-
ständlich »Christ« sein? Wer nicht mehr im traditionellen Sinn »Christ« zu sein, aber
im biblischen Glauben zu leben meint, findet bei Kierkegaard die christliche Radika-
lität getroffen, die man nicht vergessen kann.
Wenn man die Auffassung des neutestamentlichen Christentums und die Nach-
folge Christi, so wie Kierkegaard sie meint, für wahr hält - und daß sie im Neuen Tes-
tament einen großen Raum einnimmt, ist nicht zu bezweifeln -, so ist das Pfarrerwer-
den in der Kirche und in dem in der Kirche verkündeten Christentum nicht möglich.
Kierkegaards Kampf gegen die Kirche scheint es auszuschließen, noch mit Redlichkeit
Pfarrer sein zu können.
Wenn man die Voraussetzungen Kierkegaards, deren Konsequenzen ihm die totale
Absage an die Kirche aufzwangen, nicht annimmt, so ist doch nach Kierkegaard es nur
noch bei Abschirmung gegen das Denken, daher bei Unernst möglich, Kirche, Pfar-
rerberuf, Glaubensform in den traditionellen Auffassungen zu bewahren. Infolge des
Ereignisses Kierkegaard und seines Denkens wird, falls biblischer Glaube noch weiter
in der Welt wirkt, dies wahrscheinlich nur bei einer Erneuerung möglich sein, die,
durch Kierkegaard veranlaßt, gegen Kierkegaard stattfindet.
Kierkegaard hilft zwar nicht auf den Weg des biblischen Glaubens, wohl aber zu
reinerem, unterscheidendem Bewußtsein. Wer die Kierkegaardsche Auffassung des
neutestamentlichen Christentums sich nicht aneignet, wird um so klarer zur Idee ei-
ner Reformation im Grunde der Erscheinung des biblischen Glaubens überhaupt ge-
führt. Diese stelle ich mir auf protestantischem Boden vor.
(b) Bei einer historisch-objektiven Betrachtung hat die katholische Kirche als Reli-
gion eine viel mächtigere Chance für die Zukunft. Der einheitlichen, weltweiten päpst-
lichen Führung, den Methoden kirchlich-katholischen Denkens, der das Leben durch-
dringenden Heiligung der großen Daseinsaugenblicke und des Alltags, der Gegenwart
der künstlerischen Herrlichkeit mehr als eines Jahrtausends, der Mannigfaltigkeit des
religiösen Tuns, der eindrucksvollen Macht der Ordensmänner und Priester in der geis-
tig begründeten zölibatären Verzehrung ihres Daseins im Glauben, der an der Kirche
sich haltenden und doch der kirchlich-politischen Gewaltsamkeit und List fer|nen ka-
tholischen Frömmigkeit, mit der selbst etwas von Philosophie in die Breite der Bevöl-
kerung dringt, all dem gegenüber wirkt der Protestantismus arm.
Was aber auch immer zuungunsten des Protestantismus gesagt werden kann, er hat
einen einzigen, alle Mängel aufhebenden Vorzug. Es ist das Prinzip, als das er in die
Welt trat: die Möglichkeit, alle Erscheinungen des Glaubens zu durchbrechen zu neuer
Verwirklichung aus dem Ursprung. Für den katholischen Blick ist der Protestantismus
nur der Weg des Neins. Er gibt eines nach dem anderen preis und endet für katholi-
sche Sicht im totalen Verschwinden aller eigentlich religiösen Gehalte: des Gottmen-
schen, der Auferstehung, des persönlichen Gottes, der Sakramente. Er zerpulvert sich

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