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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0612
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Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung 5II
Getrennt sind sie durch die Weisen des Gottesdienstes, dort in der Form einer ge-
meinschaftlichen Liturgie der sakramental vergegenwärtigten Heilsgewißheit, hier in
der Form der philosophischen Besinnung.
Getrennt sind beide durch den Sinn ihres Sprechens von der Transzendenz: Für den
Offenbarungsglauben ist diese das Andere, das ihm von außen kommt, und dessen Ga-
rantie durch seine Leibhaftigkeit in der Welt in heiligen Kirchen, Gegenständen,
Handlungen, Personen, kanonischen Schriften da ist. Für den philosophischen Glau-
ben gibt es in der Welt keine Sicherheit von objektivem und allgemeinem Charakter,
vielmehr ist er angewiesen auf das Innerste des Innen, wo die Transzendenz als Wirk-
lichkeit sich fühlbar macht oder ihm ausbleibt.
| (b) Der Unterschied des Beschwörens der Transzendenz in der Philosophie von der Ver-
kündigung in der Predigt:
Philosophische Beschwörung der Transzendenz und Predigen sind auf das gleiche
bezogen. Der Unterschied ist: jene Beschwörung ist freie kritische Bewegung in Chif-
fern, diese Predigt ist gebundene Verkündigung der Offenbarung. Dort ist Vollmacht
allein durch die eigene Verantwortung des einzelnen Menschen, der er selbst sein
kann; hier ist Vollmacht durch Stiftung der Kirche und das übertragene Amt.
Der philosophisch Glaubende kann nicht predigen. Denn er hat nichts zu verkün-
den. Daher ist die Predigt in der Kirche ihm mit Recht verwehrt. Nur der Ordinierte ist
ausgestattet mit kirchlicher Vollmacht zur Predigt.
Erst wenn in der Kirche die Verkündigung den Charakter von Offenbarungsreali-
tät, Dogma und Bekenntnis abstreift, das heißt, wenn sie selber zur Beschwörung der
Chiffern würde, dann würde der Widerstreit zwischen Theologie und Philosophie ver-
schwinden. Das aber ist eine Verwandlung, die heute in allen Kirchen utopisch aus-
sieht und in der Tat vielleicht das aufheben würde, ohne das eine Kirche nicht sein
kann: die geschichtliche Vollmacht selber als Element des Glaubens. Die Frage wäre,
ob die Sprache der Chiffern den Ernst der Existenz nicht schwächen, sondern steigern
könnte, und ob die Vollmacht als selber geschichtliche Chiffer und nicht als Anspruch
der Allgemeingültigkeit für alle Menschen ihre Tragkraft zu behaupten vermöchte. Es
würde Sache der Freiheit des Einzelnen, wie er geschichtliche Vollmacht und Predigt
erfährt, wenn in der Existenz des Pfarrers die rational nicht bestimmbare Einheit von
Vollmacht und Schwebe wirklich wird.
Werden die Kirchen von innen heraus diese Wandlung hervorbringen? Vielleicht
nur dadurch würden sie den wahrhaften, noch verborgenen Kräften in den modernen
Menschenmassen verbündet. Sie würden mit der Härte der Sprache der Realität, mit
der Kraft der Liebe und mit der Führung durch die Vernunft den praktischen Ernst er-
wecken, der die Welt bewegen könnte angesichts der heute äußersten Drohungen. Sie
würden in den Einzelnen die Existenz befreien, deren Glaube »Berge versetzen«
kann.649 Sie würden die Welt nicht schlafen lassen, sondern durch Wahrheit der Frei-
heit die tiefsten Antriebe geben, um Gerechtigkeit und Frieden zu verwirklichen.

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