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Philosophie und Offenbarungsglaube
Jaspers
Mir scheint, keineswegs. Die Fragen: Woran können wir uns halten? Was hält uns? ge-
hören in der Tat zusammen. Bevor ich aber die Antwort, die selber in der Schwebe
bleibt, versuche, möchte ich unumgänglich einige Grunderfahrungen festhalten, etwa
die Tatsache, daß Menschen durch einen von ihnen nicht verursachten Naturprozeß
in Wahnsinn verfallen. Wer nicht miterlebt hat, wie das geschieht, die entsetzliche
20 Angst des Überfallenwerdens, dies Spüren nicht so sehr | der Zerstörung als der Ver-
kehrung, in der das Ich sozusagen seiner selbst beraubt wird und doch in einer ande-
ren Daseinsgestalt weiterlebt, und dann, wie der Kranke nachher - seiner Krankheit
nicht mehr bewußt - für uns fremd, für sich selber, gleichsam ausgebrannt weiterlebt -
wer nicht erfahren hat den Abbruch der Kommunikation im Beginn solcher Erkran-
kungen, wer die Erscheinungen des Wahnsinns überhaupt nicht kennt, der stellt auch
nicht die Frage: Will das Gott? Ist Gott ein Wesen, das dies zuläßt? Hat dieses Wesen
eine Welt erschaffen, in der dieses ständig alle Tage in immer neuen Formen des Grau-
ens geschieht? Das ist nur eines. All das Unheil, das unverschuldet ist - wer wagt es zu
deuten aus dem Willen der Gottheit? Es ist nur zu gut zu verstehen, wenn Gnostiker
einen bösen Weltschöpfer gedacht haben. Wer Gott glaubt, daß er ist und was er ist
und wie er sich zeigt, muß Rede stehen, wie er mit seinem Gottesglauben, wie er mit
Gott das schuldlose Unheil in Einklang bringt. In meinem Buche ist der Abschnitt über
den Hiob ein wichtiger Teil. Dort gibt es eigentlich keine Lösung, aber die Wahrheit
21 des Kampfes um die Chiffer Gott, der | Kampf sozusagen unter Anrufung Gottes gegen
Gott. Dort ist Gott als Möglichkeit einer Instanz, eine Person, gegen die Anklage erho-
ben wird. Wenn ich trotz allem Vertrauen habe, scheinbar widersinnig, wenn ich nicht
weiß, wozu, wenn ich Dank empfinde -, ich weiß nicht wem, dem Schicksal, Gott? -,
so frage ich mich: Woher, Warum? Alles spricht doch dagegen. Mein eigenes Glück
und Unglück ist wie ein Zufall. Was andere trifft, trifft auch mich, denn irgendwie bin
ich als Mensch mit den Menschen solidarisch. Wir sind alle Schicksalsgefährten in
dieser merkwürdigen Situation dieser Welt. Belüge ich mich nicht, wenn ich Vertrauen
habe, wenn ich das Unrecht vergesse? Werde ich nicht eigennützig, ungerecht in der
Zufriedenheit mit der augenblicklichen, scheinbar glücklichen Situation, in der ich
mich befinde? Wenn ich Vertrauen habe, so sehe ich, daß es sehr ernste Menschen ge-
geben hat, die es nicht mehr besaßen, und daß es Schicksale gab, in denen ein Ver-
trauen nicht mehr zu erwarten war. Ich kann mich nicht daran halten, an irgend et-
was, was mir dargeboten wird, sondern es liegt im Grunde so, daß ich fraglos davor
22 stehe, daß ich in der Weise, wie ich bin, | wie ich Vertrauen habe oder nicht, wie ich
meiner Freiheit gewiß werde und aus ihr handle, mir geschenkt werde, mitgeschenkt,
denn das merkwürdige ist, daß ich nicht die Freiheit hervorbringe, sondern in der Frei-
heit durch etwas bin, was nicht in der Welt ist.
Philosophie und Offenbarungsglaube
Jaspers
Mir scheint, keineswegs. Die Fragen: Woran können wir uns halten? Was hält uns? ge-
hören in der Tat zusammen. Bevor ich aber die Antwort, die selber in der Schwebe
bleibt, versuche, möchte ich unumgänglich einige Grunderfahrungen festhalten, etwa
die Tatsache, daß Menschen durch einen von ihnen nicht verursachten Naturprozeß
in Wahnsinn verfallen. Wer nicht miterlebt hat, wie das geschieht, die entsetzliche
20 Angst des Überfallenwerdens, dies Spüren nicht so sehr | der Zerstörung als der Ver-
kehrung, in der das Ich sozusagen seiner selbst beraubt wird und doch in einer ande-
ren Daseinsgestalt weiterlebt, und dann, wie der Kranke nachher - seiner Krankheit
nicht mehr bewußt - für uns fremd, für sich selber, gleichsam ausgebrannt weiterlebt -
wer nicht erfahren hat den Abbruch der Kommunikation im Beginn solcher Erkran-
kungen, wer die Erscheinungen des Wahnsinns überhaupt nicht kennt, der stellt auch
nicht die Frage: Will das Gott? Ist Gott ein Wesen, das dies zuläßt? Hat dieses Wesen
eine Welt erschaffen, in der dieses ständig alle Tage in immer neuen Formen des Grau-
ens geschieht? Das ist nur eines. All das Unheil, das unverschuldet ist - wer wagt es zu
deuten aus dem Willen der Gottheit? Es ist nur zu gut zu verstehen, wenn Gnostiker
einen bösen Weltschöpfer gedacht haben. Wer Gott glaubt, daß er ist und was er ist
und wie er sich zeigt, muß Rede stehen, wie er mit seinem Gottesglauben, wie er mit
Gott das schuldlose Unheil in Einklang bringt. In meinem Buche ist der Abschnitt über
den Hiob ein wichtiger Teil. Dort gibt es eigentlich keine Lösung, aber die Wahrheit
21 des Kampfes um die Chiffer Gott, der | Kampf sozusagen unter Anrufung Gottes gegen
Gott. Dort ist Gott als Möglichkeit einer Instanz, eine Person, gegen die Anklage erho-
ben wird. Wenn ich trotz allem Vertrauen habe, scheinbar widersinnig, wenn ich nicht
weiß, wozu, wenn ich Dank empfinde -, ich weiß nicht wem, dem Schicksal, Gott? -,
so frage ich mich: Woher, Warum? Alles spricht doch dagegen. Mein eigenes Glück
und Unglück ist wie ein Zufall. Was andere trifft, trifft auch mich, denn irgendwie bin
ich als Mensch mit den Menschen solidarisch. Wir sind alle Schicksalsgefährten in
dieser merkwürdigen Situation dieser Welt. Belüge ich mich nicht, wenn ich Vertrauen
habe, wenn ich das Unrecht vergesse? Werde ich nicht eigennützig, ungerecht in der
Zufriedenheit mit der augenblicklichen, scheinbar glücklichen Situation, in der ich
mich befinde? Wenn ich Vertrauen habe, so sehe ich, daß es sehr ernste Menschen ge-
geben hat, die es nicht mehr besaßen, und daß es Schicksale gab, in denen ein Ver-
trauen nicht mehr zu erwarten war. Ich kann mich nicht daran halten, an irgend et-
was, was mir dargeboten wird, sondern es liegt im Grunde so, daß ich fraglos davor
22 stehe, daß ich in der Weise, wie ich bin, | wie ich Vertrauen habe oder nicht, wie ich
meiner Freiheit gewiß werde und aus ihr handle, mir geschenkt werde, mitgeschenkt,
denn das merkwürdige ist, daß ich nicht die Freiheit hervorbringe, sondern in der Frei-
heit durch etwas bin, was nicht in der Welt ist.