Metadaten

Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 13): Der philosophische Glaube angesichts der Offenbarung — Basel: Schwabe Verlag, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.51323#0629
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
528

Philosophie und Offenbarungsglaube

sehen in manchen Zusammenhängen in ihrer Herkunft zu begreifen versuche und wie
ich auch darin die Möglichkeiten des außerordentlichen Aufschwungs wie der Gefahr
25 sehe. Aber ich finde die Tiefe dieser Wende | nicht in der Gegenwart, sondern als das Auf-
treten des Menschseins überhaupt, das von vornherein in der Notwendigkeit der Um-
kehr aus der drohenden Verlorenheit steht. Ich spreche nicht von Menschen als einer
Art von Lebewesen innerhalb der Zoologie, auch nicht von dem nur zu erschließenden,
nicht eigentlich zu uns sprechenden Menschen der Vorgeschichte, sondern von dem
Menschen, der uns durch Überlieferung in der Sprache durch seinen Glauben, seine
Handlung bekannt wird seit etwa 6000 Jahren. Die frühesten sind die Sumerer, auf die
die Grundgedanken etwa des Gilgameschepos, der frühesten, tiefsinnigsten Gedanken,
zurückgehen. Vor allem aber sehe ich diese Wendungsmöglichkeit und -notwendigkeit
in dem Menschen, den wir als den spüren, der wir selber sind, der dieselben Grundfra-
gestellungen wahrnimmt, die wir noch haben, jenen Menschen, der - wie ich es nenne -
in der »Achsenzeit«667 der Geschichte, etwa von 1000 oder 800 vor Christus bis 200 vor
Christus, lebte, in dieser Achsenzeit, die unser Schicksal begründet, weil alle wesentli-
chen Grundgedanken, mit Ausnahme der Entwicklung der Wissenschaft, damals gelegt
26 worden sind. Unser | Schicksal ist von dort her so sehr bestimmt, daß im Vergleich mit
der Zeit der früheren Menschenart und gar des früheren Lebens etwas anderes geschieht
in diesen wenigen Jahrtausenden, und zwar ungemein schnell, heute in einem rasen-
den Tempo, dem gegenüber alles, was vorher geschah und was wir aus Resten kennen,
ein langsamer Weg war. Ursprung und Ziel dieses Geschehens sind uns ganz unbekannt.
Dieses Ereignis einiger Jahrtausende, gemessen an der Geschichte des Lebens auf der
Erde eine bloße Sekunde, ist das große, unheimliche Wunder, dessen sich unsere Zeit
mehr als jede frühere bewußt geworden ist. Das immer wiederkehrende Grundphäno-
men dieser Geschichte, die Wende der Geschichte, ist jederzeit das, daß der Mensch
nicht ist, was er ist, sondern daß er der Umkehr bedarf, jederzeit bedurfte und heute be-
darf und in Zukunft bedürfen wird, denn der Mensch lebt in der völligen Ungewißheit.
Er ist sich bewußt, gleichsam das Auge in der Welt zu sein, das sich aufgetan hat, um zu
erblicken, was ist, was - seiner eigenen Helle entsprechend - aus der Welt hell werdend
27 ihm entgegenkommt, aber er weiß zugleich, daß er nicht das Ziel sieht, daß er | nicht die
Herkunft kennt, daß er zwischen Unendlichkeiten lebt und daß er sich bewußt werden
muß dessen, was seit diesen 216 Jahrtausenden immer geschah und heute von neuem
und noch gar nicht in gleicher Tiefe wie früher geschieht. Wenn also etwas durch die
Geschichte hindurch dem Menschen als Menschen eigentümlich ist, was wir nur auf-
greifen und wiederholen, so ist in der Tat der eigentliche greifbare Unterschied doch nur
das äußerliche Faktum der Atombombe, durch die zum erstenmal - und es ist niemals
mehr rückgängig zu machen - die Menschheit in die Lage gekommen ist, sich als Gan-
zes auszurotten. Dieses Neue ist möglich geworden durch die moderne Wissenschaft.
Diese muß man in ihrem universalen Charakter als das eigentlich wirklich Neue seit ei-
nigen Jahrhunderten ansehen. Nach früheren Ansätzen, die bis zu den Griechen zurück-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften