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Philosophie und Offenbarungsglaube
Offenbarungsglauben, sondern frage nur und sehe, was der Glaubende aus seinem
Glauben heraus tut, wie er sich in der Welt verhält und mir begegnet.
Zahrnt
Nun findet sich in Ihrem Buch neben einer klaren Abweisung des Offenbarungsglau-
bens eine ebenso positive Stellungnahme, so daß Sartre Sie ja schon früher einmal einen
»christlichen Existentialisten«673 genannt hat. Wie in anderen Schriften betonen Sie, wie
31 der Philosoph auf Re |ligion, das heißt im Abendland auf das Christentum, angewiesen
bleibt, wie Philosophie und Wissenschaft ohne Religion versinken, wie wir ohne Bibel
ins Nichts gleiten würden. Was ist der Grund, daß Sie den christlichen Offenbarungs-
glauben, obwohl Sie ihn persönlich nicht teilen können, nicht nur gelten lassen, son-
dern ernstnehmen, und das ja nicht nur als Möglichkeit für die große dumme Masse?
Jaspers
Wenn ich sage, daß Philosophie auf dem Boden der Religion wächst, so ist das eine his-
torische Einsicht, die für die griechische, indische, chinesische Philosophie nicht weni-
ger gilt als für die christliche. Aber der Ursprung der Philosophie ist ein eigener, der sich
Gehalte der Religion aneignet, aber von sich aus eigene Gehalte schon mitbringt. Man
kann - wie es die frühen Christen taten - die Theologie selber eine Philosophie nennen.
Die Trennung von Philosophie und Theologie ist ja erst seit dem 13. Jahrhundert bewußt
32 im Abendlande vollzogen. Theologie wie Philosophie sind beide Prozesse des Den|kens,
des Erkennens derart, daß nicht nur die Philosophie von der Religion abhängig ist, son-
dern - und vielleicht in viel höherem Maße - die Theologie, nämlich die Theologie als
Denken der Offenbarung, in ihren Begriffen von der Philosophie abhängig ist, wenn
man diese Trennung macht. Wenn ich sage, ohne die Bibel gleiten wir in das Nichts, so
meine ich das geschichtlich für uns Abendländer. Ich brauche nur weniges zu nennen
aus dem unermeßlichen Reichtum: die ehernen Zehn Gebote, worin die Transzendenz
als der fordernde Gott auftritt; das Vordringen zur unbedingten Wahrhaftigkeit vor Gott,
wie es noch niemals in der Welt so geschehen ist; die Unabhängigkeit und Freiheit der
Persönlichkeit des Menschen durch seine Gottesbeziehung; die Befreiung in der Welt
von der Welt, um die Welt nach Gottes Willen zu gestalten; oder Gott als Gegenstand
des Vertrauens und als Gegenstand der Anklage und so fort. Es hat kein Ende mit dem
Aufzählen dessen, was in der Bibel an Gehalten für uns unerläßlich ist.
33 | Zahrnt
Bevor Sie Offenbarungsglauben und philosophischen Glauben je in ihrer Eigenart dar-
stellen, zeigen Sie, wie Kirche und Philosophie, Theologen und Philosophen sich heute
Philosophie und Offenbarungsglaube
Offenbarungsglauben, sondern frage nur und sehe, was der Glaubende aus seinem
Glauben heraus tut, wie er sich in der Welt verhält und mir begegnet.
Zahrnt
Nun findet sich in Ihrem Buch neben einer klaren Abweisung des Offenbarungsglau-
bens eine ebenso positive Stellungnahme, so daß Sartre Sie ja schon früher einmal einen
»christlichen Existentialisten«673 genannt hat. Wie in anderen Schriften betonen Sie, wie
31 der Philosoph auf Re |ligion, das heißt im Abendland auf das Christentum, angewiesen
bleibt, wie Philosophie und Wissenschaft ohne Religion versinken, wie wir ohne Bibel
ins Nichts gleiten würden. Was ist der Grund, daß Sie den christlichen Offenbarungs-
glauben, obwohl Sie ihn persönlich nicht teilen können, nicht nur gelten lassen, son-
dern ernstnehmen, und das ja nicht nur als Möglichkeit für die große dumme Masse?
Jaspers
Wenn ich sage, daß Philosophie auf dem Boden der Religion wächst, so ist das eine his-
torische Einsicht, die für die griechische, indische, chinesische Philosophie nicht weni-
ger gilt als für die christliche. Aber der Ursprung der Philosophie ist ein eigener, der sich
Gehalte der Religion aneignet, aber von sich aus eigene Gehalte schon mitbringt. Man
kann - wie es die frühen Christen taten - die Theologie selber eine Philosophie nennen.
Die Trennung von Philosophie und Theologie ist ja erst seit dem 13. Jahrhundert bewußt
32 im Abendlande vollzogen. Theologie wie Philosophie sind beide Prozesse des Den|kens,
des Erkennens derart, daß nicht nur die Philosophie von der Religion abhängig ist, son-
dern - und vielleicht in viel höherem Maße - die Theologie, nämlich die Theologie als
Denken der Offenbarung, in ihren Begriffen von der Philosophie abhängig ist, wenn
man diese Trennung macht. Wenn ich sage, ohne die Bibel gleiten wir in das Nichts, so
meine ich das geschichtlich für uns Abendländer. Ich brauche nur weniges zu nennen
aus dem unermeßlichen Reichtum: die ehernen Zehn Gebote, worin die Transzendenz
als der fordernde Gott auftritt; das Vordringen zur unbedingten Wahrhaftigkeit vor Gott,
wie es noch niemals in der Welt so geschehen ist; die Unabhängigkeit und Freiheit der
Persönlichkeit des Menschen durch seine Gottesbeziehung; die Befreiung in der Welt
von der Welt, um die Welt nach Gottes Willen zu gestalten; oder Gott als Gegenstand
des Vertrauens und als Gegenstand der Anklage und so fort. Es hat kein Ende mit dem
Aufzählen dessen, was in der Bibel an Gehalten für uns unerläßlich ist.
33 | Zahrnt
Bevor Sie Offenbarungsglauben und philosophischen Glauben je in ihrer Eigenart dar-
stellen, zeigen Sie, wie Kirche und Philosophie, Theologen und Philosophen sich heute