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Jaspers, Karl; Kaegi, Dominik [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 8): Schriften zur Existenzphilosophie — Basel: Schwabe Verlag, 2018

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https://doi.org/10.11588/diglit.69895#0087
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Vernunft und Existenz

die wir nicht Ausnahme sind, aber im Blick auf diese Ausnahme unseren inneren Weg
suchen.
Wir sind in der geistigen Situation, daß die Abwendung dieses Blicks schon der
Keim der Unredlichkeit wird. Es ist, als ob erst sie uns ganz aus einer Gedankenlosigkeit
herauszwingen, die ohne sie selbst beim Studium der großen Philosophen für uns noch
zu bleiben scheint. Wir können nicht mehr ruhig in der Kontinuität der überlieferten
Begriffsbildung fortgehen. Denn durch Kierkegaard und Nietzsche ist eine Weise der
Denkerfahrungen der Existenz wirksam geworden, deren Folgen noch nicht allseitig
an den Tag gekommen sind. Sie haben eine noch undurchschaute, aber fühlbare Frage
gestellt, die noch offen ist. Es ist durch sie zum Bewußtsein gebracht und bewirkt, daß
kein selbstverständlicher Boden mehr für uns ist. Es gibt nicht mehr einen unangetas-
teten Hintergrund unseres Denkens.
In der Beschäftigung mit ihnen ist für den Einzelnen gleich groß die Gefahr: ihnen
zu verfallen, und: sie nicht ernst zu nehmen. Es ist unausweichlich ein ambivalentes
Verhältnis zu ihnen. Beide haben keine Welt erbaut, scheinen alles aufzuheben und
sind doch positive Geister. Es ist ein eigentümliches neues Verhältnis zum schaffen-
den Denker von uns zu verwirklichen, wenn wir uns ihnen wirklich nähern, anders
als allen Großen.
Wird angesichts des Zeitalters und des durch Kierkegaard und Nietzsche geschaf-
39 fenen Denkens die Frage gestellt: | was nun? so verweist Kierkegaard ins absurd Christ-
liche, vor dem die Welt versinkt; Nietzsche weist ins Ferne, Unbestimmte, das nicht
als Substanz erscheint, aus der wir leben könnten. Ihre Antworten hat niemand ange-
nommen; es sind nicht die unsern. Es ist an uns, zu sehen, was im Hinblick auf sie
durch uns aus uns wird. Dies ist jedoch auf keine Weise vorher zu entwerfen oder fest-
zustellen.
So würden wir irren, wenn wir meinten, aus weltgeschichtlicher Übersicht der Ent-
wicklung des menschlichen Geistes ableiten zu können, was jetzt zu geschehen habe.
Wir stehen nicht außerhalb wie ein so gedachter Gott, der das Ganze vorwegnehmend
erblickte. Für uns kann keine Gegenwart durch eine vermeintliche Weltgeschichte, aus
der sich unser Ort und unsere Aufgabe ergibt, ersetzt werden. Auch diese Vorlesung
wollte nicht das Ganze überblicken, sondern in Erinnerung an das Vergangene die Si-
tuation aus sich heraus fühlbar machen. Niemand weiß, wohin es mit dem Menschen
und seinem Denken hinaus soll. Da das Dasein, der Mensch und seine Welt nicht am
Ende sind, kann es ebensowenig eine fertige Philosophie wie eine Antizipation des Gan-
♦ zen geben. Wir Menschen planen endliche Zwecke. Es kommt immer auch ganz Ande-
♦ res, als irgend jemand wollte, dabei heraus. Ebenso ist das Philosophieren ein die Inner-
lichkeit des Menschen bewirkendes Tun, das seinen letzten Sinn nicht wissen kann,
daher auch die gegenwärtige Aufgabe nicht als ein Besonderes aus dem vorweggenom-
menen Ganzen abzuleiten vermag, vielmehr sie aus dem jetzt erfahrenen Ursprung und
 
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