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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0430
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Grundsätze des Philosophierens

427

Welt als der Schöpfung Gottes, die uns verwehrt, äusser in der Grenze eines Übergangs,
im unsinnlich Transcendenten ausschliessend Fuss zu fassen.
Der Menschenvergötterung liegt die Wahrheit zu Grunde, dass in der Welt die ein-
zige Garantie des Eigentlichen für den Menschen der Mensch ist. Es ist etwas im Men-
schen, das das Wort ermöglichte: Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde;311 aber
der Mensch ist abgefallen und daher ist in jedem Menschen als Menschen das Gottes-
bild verschleiert. Grosse Menschen sind für die Nachfolgenden Orientierung und Vor-
bild, Gegenstand der Ehrfurcht und möglicher Weg des Aufschwungs, wenn sie auch
immer noch Menschen sind mit ihrem Mangel und ihrem Versagen, daher nie Gegen-
stand einer nachahmenden Nachfolge3. Es ist immer eine freie Beziehung des Men-
schen zum Menschen, so lange er wahrhaftig bleibt, wenn für den Einzelnen eine sein
Leben tragende geschichtliche Bindung an bestimmte Einzelne besteht, gegründet in
der Überlieferung und erfüllt in der Liebe.
Im Nihilismus wird ausgesprochen, was dem redlichen Menschen als Übergang un-
umgänglich ist. In der Realität des Weltseins ist die Verzweiflung an der Grenze unaus-
weichlich. Dort erhebt sich die Frage. Für jeden Glauben bleibt die Prüfung und Be-
währung an der Möglichkeit des Nichts. Kein Glauben darf sich eine Sicherheit
anmassen, auf die ein objektiver Verlass wäre. Der Charakter der Glaubensgewissheit
als Wagnis und als Geschenk hat vor sich den Nihilismus als Menetekel gegen allen
Übermut, zu dem der Glaube neigen kann und in den er innerhalb des starr werden-
den kirchlichen Glaubens so oft verfallen ist?

a nachahmenden Nachfolge im Vorlesungs-Ms. 1945/46 Vdg. zu Nachahmung
t> nach ist. im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. 11 Der Nihilismus ist noch anders als Dämonologie und
Menschenvergötterung, in die er ausweicht. Der offenbare Nihilismus ist unwiderlegbar, wie um-
gekehrt kein Glaube beweisbar ist. Es liegt etwas Empörendes im hochmütigen Verachten des Ni-
hilismus. Wer angesichts der entsetzlichsten Sinnlosigkeiten und Ungerechtigkeiten diese nicht
in ihrer vollen Realität vergegenwärtigt, sondern in einer fast automatischen Selbstverständlich-
keit über sie hinweg geht durch Reden von Gott, kann uns unwahrhaftiger und unmenschlicher
erscheinen als der Nihilist selber. Dostojewski zeigt auf das Quälen und Morden unschuldiger Kin-
der. Was ist das für ein Sein, eine Welt, ein Gott, durch die das möglich ist und zugelassen wird!
Wem das Entsetzlichste angetan ist, und wer von da an mit Hass und Empörung durch die Welt
geht, zur Rache bereit, der ist gewiss der unbequemste Nachbar und kein Gegenstand der Liebe.
Er selber flosst wiederum Furcht und Entsetzen ein. Gegen ihn erheben sich die Instinkte der
Selbstbewahrung, die ihn vernichten möchten wie einen Wahnsinnigen. Wie der Mensch durch
die Natur in Wahnsinn verfallen kann, so durch Menschen in dieses Entsetzen, das ihn schlecht-
hin nihilistisch macht. Wir werden es nicht bejahen können, nicht anerkennen, dass er Recht hat,
erklären, dass das Böse böse bleibt, auch wenn es in Fortsetzung und in Gegenwirkung gegen vor-
hergehendes Böse geschieht. Aber wir sind unfähig, da noch eine Harmonie des Seins zu denken
und zu glauben. Grenzenloses Mitleid, Ratlosigkeit im Schweigen, Hoffnungslosigkeit muss uns
immer wieder befallen. Man kann eher fragen: wie ist es möglich, dass wir nicht alle Nihilisten
werden? - als dass man den Grund der Erfahrungen, die zum Nihilismus führen können, über-
sehe. 11 Und doch ist meine ganze Vorlesung ein einziger Versuch, sich des Nihilismus zu erweh-
 
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