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Jaspers, Karl; Weidmann, Bernd [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 2, Band 1): Grundsätze des Philosophierens: Einführung in philosophisches Leben — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69897#0435
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Grundsätze des Philosophierens

Aber dieser Antrieb bleibt selten rein; er kann sich leicht umsetzen in eine neue Ge-
stalt abgründiger3 Unwahrhaftigkeit: mit dem Wahrheitswillen verbindet sich Überle-
genheits- und Machtgefühl, es erwächst alsbald Kampflust, Zerstörungslust, Quäl-
sucht. Der Hass bedient sich der scheinbaren Wahrhaftigkeit als eines Mittels.
Das wird erleichtert, weil hier die Frage nach dem Sinn von Wahrheit - eine gar-
nicht einfach und selbstverständlich zu beantwortende Frage - von Anfang an unge-
klärt, ja ungestellt blieb, so auch die Frage nach dem Sinn der jeweils concreten Wahr-
heitsbehauptungen. So geschah das Erstaunliche, dass der aufgeklärte Mensch in
weitestem Ausmass unwahrhaftig wurde, entweder13 ein in Scheinwahrheit sich ver-
schleiernder Interessenkämpfer oderc neurotisch Ratloser.
Insbesondere gehen unbefragt einige falsche, aber bequeme Scheinselbstverständ-
lichkeiten voraus0, z.B.: die Welt sei bei klarem Verstand und gutem Willen richtig ein-
zurichten; die Wahrheit könne nur gute, erwünschte Folgen haben; man müsse unter
allen Umständen die Wahrheit sagen und sie jederzeit sagen. Oder umgekehrt erklärt
man nach Enttäuschungen: die Welt sei im Grunde verdorben und bodenlos; Wahr-
heit tauge nicht, sie zerstöre; man müsse die Wahrheit verbergen und die zweckmäs-
sige, nützliche Lüge finden.6 Alle solche falschen Totalbehauptungen dienen zu Ver-
schleierungen und zum Ausweichen vor der echten, eindringenden, unablässigen
Wahrheitsbemühung. Solche Verschleierungen entspringen1 der Aufklärung minde-
stens in gleichem Umfang wie der ihr vorhergehenden autoritativen Religion.
bb. Preisgabe des dialektischen Kreisens als des Grundes von Leben und Können:
Auf Grund von Alternativen des Verstandes entsteht eine Tendenz, statt in Kreisen von
Spannungen, Polaritäten, dialektischen Bewegungen den Gehalt zu verwirklichen, ihn
vielmehr geradezu, einlinig, zweckhaft zu ergreifen. Dabei ist jedoch die Folge nicht
nur Verfehlung des Zieles, sondern Lähmung des Lebens selber.
Das lässt sich in Stufen vergegenwärtigen, auf denen Vergleichbares in Analogien
wiederkehrt. Schon alles psychophysische Geschehen ist ein Kreisgeschehen, dessen
Aufbau nur in ersten Ansätzen der Forschung sich enthüllt hat: in den psychophysi-
schen Funktionen der Motorik, des Sprechens, Gehens, Arbeitens, der Wahrnehmung,
der Funktionen des Atmens, der Entleerungen, der Geschlechtlichkeit. Wo hier der

a abgründiger im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu hässlicher
b wurde, entweder im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu wurde. Er konnte reden als
c nach oder im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. als ein
d Insbesondere gehen unbefragt einige falsche, aber bequeme Scheinselbstverständlichkeiten vor-
aus im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Vdg. zu Insbesondere gehen im unwahrhaftigen Wahrheitsfana-
tismus falsche, aber bequeme Scheinselbstverständlichkeiten befragt oder unbefragt voraus, und
zwar je nach Lage in mannigfacher Gestalt
e nach finden, im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. So erreicht der Wahrheitsfanatismus seinen Gip-
fel, indem er aus vermeintlicher Redlichkeit die Lüge bejaht.
f nach entspringen im Vorlesungs-Ms. 1945/46 hs. Einf. nun wunderlicher Weise
 
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