Einleitung. Malalas im Kontext spätantiker Memorialkultur
II
entwickelte Idee der „mémoire collective“, nach der das Gedächtnis nicht nur als in-
dividuelles mentales System, sondern als Funktion des sozialen Lebens zu begreifen
ist.5 Jan Assmann unterschied in seiner 1992 erschienen Monographie „Das kulturelle
Gedächtnis“ unter Rückgriff auf diese Ansätze zwischen einem kommunikativen, auf
mündlicher Tradierung basierenden Gedächtnis und dem kulturellen Gedächtnis, das
Institutionalisierungen unterliege und durch Texte, Monumente oder Riten geformt
werde.6
Die Erinnerung als Akt und die Vergeschichtlichung als Prozess weisen eine enge
Verwandtschaft auf. Stärker als der Gedächtnisbegriff verweisen beide auf den empi-
rischen Untersuchungsgegenstand, d.h. auf das Entstehen dessen, was wir als kollekti-
ves, kommunikatives oder kulturelles Gedächtnis bezeichnen. Das Konzept der „lieux
de mémoire“, das eng mit dem Namen Pierre Nora verbunden ist, beschreibt einen
solchen Prozess: „Orte“, verstanden als materielle oder nicht-materielle Entitäten,
können demnach für eine Gemeinschaft eine besondere symbolische Bedeutung er-
langen, ja identitätsstiftend wirken.7 Was die „lieux de mémoire“ im Großen (konkret:
die französische Nation) beschreiben, mag für kleinere Gruppen kleinere Entitäten
umfassen. Gemeinsam ist allen Formen der memoria, dass sie in der Erinnerungspraxis
starken Verformungstendenzen unterliegen können - was bei Historikern naturge-
mäß besonderes Interesse weckt; andersherum können sie aber auch eine bewahrende
Funktion haben.8
Wenn im hiesigen Zusammenhang der Begriff der Memorialkultur verwendet
wird, dann geschieht das nicht, um die Fragestellung gemäß der alltagssprachlich üb-
lichen Zuspitzung auf das Totengedenken zu lenken - obwohl letzterem sowohl in
der römischen als auch in der christlichen memoria ein zentraler Platz zukommt -,
sondern im Gegenteil, um die Breite des untersuchten Feldes zu verdeutlichen, das
sich auf alle Bereiche kulturellen Schaffens erstreckt. Für das Verständnis der Chrono-
graphia des Malalas interessieren in diesem Zusammenhang vor allen Dingen die spe-
zifischen kulturellen Ausprägungen der Vergangenheitsbewahrung und -konstruktion
am Übergang von der Antike zum Mittelalter. Die Fragen, mit denen man sich die-
sem Zusammenhang annähern kann, weisen wiederum eine große Bandbreite auf, die
sich aber im Kontext des vorliegenden Bandes in einige wesentliche Bereiche gliedern
lassen - auch wenn nicht wenige Beiträge gleich mehrere von ihnen betreffen.
Einen gut begründeten Ausgangspunkt zur Erforschung der Thematik bilden die
eigentlichen Träger der Erinnerung, also die verschiedenen ,medialen4 Formen, über
die memoria transportiert wird. Ein besonderes Augenmerk muss dabei im hiesigen
5 Halbwachs (1925/2004).
6 Assmann (1992). Das Konzept des Ägyptologen hat gerade auf die der Vormoderne gewidmeten For-
schungen zur memoria stimulierende Wirkung gehabt, bietet allerdings keine „matrix for routine imi-
tation“, da sich der Umgang mit der Vergangenheit auch zwischen vormodernen Gesellschaften unter-
scheidet: Galinsky (2016), S. 12.
7 Nora (1984). Auch für die Antike sind solche Erinnerungsorte vermessen worden: Vgl. Stein-Hölkes-
kamp/Hölkeskamp (2006); Stein-Hölkeskamp/Hölkeskamp (2010).
8 Letzteres betonte jüngst Schwartz (2016).
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entwickelte Idee der „mémoire collective“, nach der das Gedächtnis nicht nur als in-
dividuelles mentales System, sondern als Funktion des sozialen Lebens zu begreifen
ist.5 Jan Assmann unterschied in seiner 1992 erschienen Monographie „Das kulturelle
Gedächtnis“ unter Rückgriff auf diese Ansätze zwischen einem kommunikativen, auf
mündlicher Tradierung basierenden Gedächtnis und dem kulturellen Gedächtnis, das
Institutionalisierungen unterliege und durch Texte, Monumente oder Riten geformt
werde.6
Die Erinnerung als Akt und die Vergeschichtlichung als Prozess weisen eine enge
Verwandtschaft auf. Stärker als der Gedächtnisbegriff verweisen beide auf den empi-
rischen Untersuchungsgegenstand, d.h. auf das Entstehen dessen, was wir als kollekti-
ves, kommunikatives oder kulturelles Gedächtnis bezeichnen. Das Konzept der „lieux
de mémoire“, das eng mit dem Namen Pierre Nora verbunden ist, beschreibt einen
solchen Prozess: „Orte“, verstanden als materielle oder nicht-materielle Entitäten,
können demnach für eine Gemeinschaft eine besondere symbolische Bedeutung er-
langen, ja identitätsstiftend wirken.7 Was die „lieux de mémoire“ im Großen (konkret:
die französische Nation) beschreiben, mag für kleinere Gruppen kleinere Entitäten
umfassen. Gemeinsam ist allen Formen der memoria, dass sie in der Erinnerungspraxis
starken Verformungstendenzen unterliegen können - was bei Historikern naturge-
mäß besonderes Interesse weckt; andersherum können sie aber auch eine bewahrende
Funktion haben.8
Wenn im hiesigen Zusammenhang der Begriff der Memorialkultur verwendet
wird, dann geschieht das nicht, um die Fragestellung gemäß der alltagssprachlich üb-
lichen Zuspitzung auf das Totengedenken zu lenken - obwohl letzterem sowohl in
der römischen als auch in der christlichen memoria ein zentraler Platz zukommt -,
sondern im Gegenteil, um die Breite des untersuchten Feldes zu verdeutlichen, das
sich auf alle Bereiche kulturellen Schaffens erstreckt. Für das Verständnis der Chrono-
graphia des Malalas interessieren in diesem Zusammenhang vor allen Dingen die spe-
zifischen kulturellen Ausprägungen der Vergangenheitsbewahrung und -konstruktion
am Übergang von der Antike zum Mittelalter. Die Fragen, mit denen man sich die-
sem Zusammenhang annähern kann, weisen wiederum eine große Bandbreite auf, die
sich aber im Kontext des vorliegenden Bandes in einige wesentliche Bereiche gliedern
lassen - auch wenn nicht wenige Beiträge gleich mehrere von ihnen betreffen.
Einen gut begründeten Ausgangspunkt zur Erforschung der Thematik bilden die
eigentlichen Träger der Erinnerung, also die verschiedenen ,medialen4 Formen, über
die memoria transportiert wird. Ein besonderes Augenmerk muss dabei im hiesigen
5 Halbwachs (1925/2004).
6 Assmann (1992). Das Konzept des Ägyptologen hat gerade auf die der Vormoderne gewidmeten For-
schungen zur memoria stimulierende Wirkung gehabt, bietet allerdings keine „matrix for routine imi-
tation“, da sich der Umgang mit der Vergangenheit auch zwischen vormodernen Gesellschaften unter-
scheidet: Galinsky (2016), S. 12.
7 Nora (1984). Auch für die Antike sind solche Erinnerungsorte vermessen worden: Vgl. Stein-Hölkes-
kamp/Hölkeskamp (2006); Stein-Hölkeskamp/Hölkeskamp (2010).
8 Letzteres betonte jüngst Schwartz (2016).