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Vorwort

Der Hauptherausgeber der kritischen Nietzsche-Ausgabe, Mazzino Montinari,
stellte fest, Die Geburt der Tragödie sei „Nietzsches schwierigstes Werk“ (KSA 1,
902). Das liegt vor allem daran, daß Nietzsches Erstling in verwirrender Weise
vielschichtig ist. Schon aus dem Entstehungsprozess ergibt sich ein Teil der
Schwierigkeiten, denn Nietzsche versuchte eine Reihe divergenter Vorstufen,
die er als selbständige Vorträge konzipiert hatte, miteinander zu einer größe-
ren, für Bayreuth werbenden Schrift zu verbinden. Er revidierte, schrieb Über-
leitungen, fügte Neues ein und gelangte, über Verwerfungen und Brüche hin-
weg, nur mit Mühe zu einer übergreifenden Struktur. Vielschichtig und
kompliziert ist die Tragödienschrift aber auch, weil Nietzsche heterogene Berei-
che zu homogenisieren versuchte. Er selbst reflektierte dies während der Nie-
derschrift, indem er in einem Brief bemerkte, er werde ein Mischwesen: einen
„Centauren“ gebären. Viel gelehrtes Wissen aus seinem Repertoire als klassi-
scher Philologe kombinierte er mit Thesen aus Wagners theoretischen Schriften
und mit Elementen aus dessen Kompositionen, mit den Philosophemen Scho-
penhauers, an dem sich auch Wagner weltanschaulich orientierte, mit einer
Fülle von Bildungsreminiszenzen aus der Literatur des 18. und 19. Jahrhun-
derts, mit wiederum im Sinne Wagners perspektivierten musikhistorischen
Digressionen, mit kulturkritischen Exkursen zu aktuellen Zeiterscheinungen,
und nicht zuletzt auch mit der direkten oder indirekten Markierung politischer
Positionen. All dies führte zu einem facettenreichen Bild.
Ein Kommentar hat alle Aspekte zu berücksichtigen: das in den ersten
zwei Dritteln der Geburt der Tragödie stark hervortretende altphilologische
Interesse im Hinblick auf die griechische Tragödie, den philosophischen und
den musiktheoretischen Diskurs, schließlich die gegenwartsbezogene Kultur-
kritik. Zugleich muß ein angemessener Kommentar die in der Forschung oft
vernachlässigte intentionale Formierung all dieser Bereiche sichtbar machen.
Sie reicht bis tief in die Infrastruktur des Textes hinein. Es handelt sich, wie
Nietzsche selbst schon im Vorwort an Richard Wagner erklärt, um ein auf Wag-
ner hin entworfenes Unternehmen. Die , Geburt4 der Tragödie bei den Griechen
sollte die ,Wiedergeburt4 in Wagners Musikdrama als Erfüllungsziel ankündi-
gen. Wie Nietzsche die vier Jahre später unter dem Titel Richard Wagner in
Bayreuth erscheinende vierte ,Unzeitgemäße Betrachtung4 als Festschrift zur
bevorstehenden Eröffnungsfeier für das Festspielhaus in Bayreuth plante, so
sollte die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik ein Beitrag anläßlich
der Grundsteinlegung des Festspielhauses im Jahre 1872 sein. Kurz vor diesem
Ereignis, an das Nietzsche Hoffnungen auf eine gesamtkulturelle Erneuerung
knüpfte, erschien seine Schrift. Im Schlußkapitel deutet er auf dieses Grün-
dungsereignis hin.
 
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