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6 Versuch einer Selbstkritik

Die „Antwort“, die N. in der Tragödienschrift auf die Frage „was ist diony-
sisch?“ gegeben hatte, erscheint ihm im Rückblick gerade nicht als eine
begrifflich-definitorische, sondern als die eines „Eingeweihten und Jünger[s]
seines Gottes“. Diese Auskunft ist ambivalent. Zwar weist sie auf das Unwissen-
schaftliche, auf das bloß Intuitive und Spekulative des Frühwerks, weshalb es
schon vorher heißt: „Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele4 - und nicht
reden!“ (15, 9f.). Zugleich aber läßt N. durchblicken, daß ihm gerade mit dem
intuitiven Konzept des „Dionysischen“ ein Wurf gelungen sei, der seinen blei-
benden Wert als eine Herausforderung besitzt, die wissenschaftlich uneinhol-
bar ist, weil sie prinzipiell jenseits der disqualifizierten Wissenschaft liegt.
Ausgespart bleibt, und dies ist für N.s Umgang mit seinen Quellen charakteris-
tisch, daß sich seine Vorstellung des „Dionysischen“ an einen schon seit der
deutschen Romantik etablierten und auch in der von ihm benutzten gelehrten
Literatur des 19. Jahrhunderts weitergeführten Diskurs anschloß, also durchaus
keine neue Erfindung war (vgl. den Kommentar zu 25, 4-6). Im Rückblick des
Ecce homo auf GT bezeichnet N. das Dionysische als „Symbol“, das seine
Bedeutung im Horizont der eigenen, gegen das lebensfeindliche, verneinende
Wesen des Christentums gerichteten Wertung erhält. „Im dionysischen Sym-
bol“, so N., sei „die äusserste Grenze der Bejahung erreicht“ (KSA 6, 310,
27 f.). Gehört in GT das ,Dionysische4 noch in eine Ursprungs-Sphäre des Irra-
tionalen, die vorwiegend in Opposition gegen eine Welt spätzeitlicher Rationa-
lität steht, so verschiebt sich die Vorstellung des Dionysischen im 5. Kapitel
des Versuchs einer Selbstkritik und im Ecce homo auf eine zweite Opposition
hin: auf diejenige gegen das Christentum und seine „Moral“. In beiden Hin-
sichten ist das ,Dionysische4 ein Gegen-Begriff.
Schon im weiteren Verlauf des 4. Kapitels und dann durchgehend über-
formt N. seinen Versuch einer Selbstkritik mit den großen Themen seiner späte-
ren Schriften. Teils sieht er sie schon in der Geburt der Tragödie vorbereitet,
teils substituiert er das Frühwerk durch das Spätere. Zusammen mit dem in
den Schriften seiner letzten Jahre geführten Kampf gegen eine lebensfeindliche
und als Ferment der decadence gewertete „Moral“, die er insbesondere dem
Christentum anlastet, verschärft er die Absage an die ebenfalls der decadence
zugerechneten „modernen Ideen“ (16, 30; 20, 19), die von seiner frühen Prä-
gung durch den ,Basler Antimodernismus4 (Burckhardt, Bachofen, Overbeck)
über den Zarathustra (besonders im Kapitel Von den Taranteln) bis zu den
Spätschriften reicht. Als „moderne Ideen“ griff er insbesondere die ,Ideen von
17894 an: die Vorstellung von Menschenrechten und die Ideale von Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit, aus denen die demokratische Bewegung ent-
sprang. Trotz aller Unterdrückung, die für Jahrzehnte das Metternichsche Sys-
tem der Restauration mit sich gebracht hatte, wirkten sie fort. Die Juli-Revolu-
 
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