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12 Versuch einer Selbstkritik

hatte. Ohne Wagner zu nennen, rückt N. nun von ihm und dieser Art von
(spät-)romantischer Musik ab. Er spricht „von der jetzigen deutschen
Musik, als welche Romantik durch und durch ist und die ungriechischeste
aller möglichen Kunstformen“ (20, 22-24). Von derlei Romantik möchte er nun
in einer ultimativen Selbstherausforderung sein „Dionysisches“ strikt unter-
schieden wissen. Es ist eine vielsagende Verschiebung der am Ende des
3. Kapitels gestellten Frage „was ist dionysisch?“, wenn er am Ende des 6. Kapi-
tels fragt: „wie müsste eine Musik beschaffen sein, welche nicht mehr romanti-
schen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, - sondern dionysischen? ...“
(20, 32-34). In einer ungefähr gleichzeitigen Notiz aus der Zeit zwischen Herbst
1885 und Herbst 1886 heißt es (NL 1885/1886, KSA 12, 2[101], 111, 3-9): „der
plötzliche Blick dafür, daß jedes romantische Ideal eine Selbstflucht, eine
Selbst-Verachtung und Selbst-Verurtheilung dessen ist, der es erfindet. / Es ist
zuletzt eine Frage der Kraft: diese ganze romantische Kunst könnte von einem
überreichen und willensmächtigen Künstler ganz ins Antiromantische oder -
um meine Formel zu brauchen - ins Dionysische umgebogen werden“. In
der ebenfalls 1886 entstandenen Vorrede zur 2. Ausgabe der Schrift Menschli-
ches, Allzumenschliches bezeichnet er deren spätere Partien „als Fortsetzung
und Verdoppelung einer geistigen Kur, nämlich der antiromantischen
Selbstbehandlung, wie sie mir mein gesund gebliebener Instinkt wider eine
zeitweilige Erkrankung an der gefährlichsten Form der Romantik selbst erfun-
den, selbst verordnet hatte“ (KSA 2, 371, 18-22).
Das siebte und letzte Kapitel der Retrospektive auf GT erhebt das neu ins
Spiel gebrachte Stichwort „Romantik“ zum Generalverdacht gegen das eigene
Frühwerk. Und dieser Verdacht, den N. einem fiktiven Diskussionspartner in
den Mund legt, gipfelt in der Vermutung, es handle sich bereits um das Prälu-
dium zum „übliche[n] Romantiker-Finale [...] - Bruch, Zusammenbruch, Rück-
kehr und Niedersturz vor einem alten Glauben, vor dem alten Gotte ...“ (21,
19-21). N. spielt hier nicht nur auf die zahlreichen Romantiker-Konversionen
in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts an. Noch mehr zielt er auf
Wagners Parsifal, den er in der Schrift Der Fall Wagner als Konsequenz eines
sich durch das gesamte Werk des Komponisten ziehenden Erlösungsbedürfnis-
ses versteht. Mit dem Parsifal, so N., regrediere Wagners Romantik ins Christli-
che. Für ihn heißt das: in einen Jenseitsglauben aus erlösungs- und trostbe-
dürftiger, letztlich dekadenter Schwäche. Entsprechend kritisiert N. Wagners
„Parsifal-Musik“ auch in JGB 256, KSA 5, 204. In einer auf den Zeitraum zwi-
schen Sommer und Herbst 1887 zu datierenden Notiz bezeugt N. allerdings,
wie sehr ihn die Parsifal-Musik zugleich beeindruckte (NL 1886/1887, KSA 12,
5[41], 198, 24-199, 6): „Vorspiel des P(arsifaV, größte Wohlthat, die mir seit
langem erwiesen ist. Die Macht und Strenge des Gefühls, unbeschreiblich, ich
 
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