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Überblickskommentar 13

kenne nichts, was das Christenthum so in der Tiefe nähme und so scharf zum
Mitgefühl brächte. Ganz erhoben und ergriffen [...] das größte Meisterstück des
Erhabenen“.
Rückblickend sieht N. in seiner Tragödienschrift die Gefahr dekadenter
Schwäche bei sich selbst angelegt: dort, wo er „eine neue Kunst“ forderte,
nämlich „die Kunst des metaphysischen Trostes“ (21, 33). Mit einem
leidenschaftlich wiederholten „Nein!“ wehrt er diese Vorstellung eines meta-
physischen Trostes ab, weil sie ihm der christlichen Verheißung eines jenseiti-
gen „Trostes“ verdächtig nahe zu kommen scheint. Er spielt auf die biblische
Trostverheißung an („... dass ihr so endet, nämlich ,getröstet4, wie geschrie-
ben steht“, 22, 3f.), die in der Ankündigung des Heiligen Geistes als des „Trös-
ters“, des ,Parakleten‘ gipfelt (Joh. 14, 16 f.; 15, 26; 16, 13f.). Dagegen empfiehlt
er „die Kunst des diesseitigen Trostes“ (22, 7) und vertraut darauf, daß es
gelingen werde, „irgendwann einmal alle metaphysische Trösterei zum Teufel“
zu schicken (22, 10 f.). Verstärkend beruft er sich auf den durch das Motiv
des „Tanzes“ und des „Lachens“ als den Repräsentanten des „Dionysischen“
charakterisierten Zarathustra, bezeichnenderweise mit einem Zitat aus dem
blasphemischen vierten Teil des Zarathustra. Damit erhält die „dionysische“
Frage jedoch nur eine scheinbare Antwort. Sie erschöpft sich in einem Plädoyer
für ein Diesseits, das seinen Wert per negationem und in einem Zustand deli-
ranter Steigerung gewinnt.
Noch ganz spät, in Ecce homo und in Nachlass-Fragmenten des Jahres 1888,
blickt N. auf die Geburt der Tragödie zurück (KSA 13, S. 224-230). Nunmehr ver-
sucht er das „Dionysische“ und das ihm antipodisch zugeordnete Apollinische
folgendermaßen zu definieren (NL1888, KSA 13,14[14], 224, 8-23):
Mit dem Wort .dionysisch“ ist ausgedrückt: ein Drang zur Einheit, ein Hinausgreifen über
Person, Alltag, Gesellschaft, Realität, als Abgrund des Vergessens, das leidenschaftlich-
schmerzliche Überschwellen in dunklere vollere schwebendere Zustände; ein verzücktes
Jasagen zum Gesammt-Charakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-
Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, wel-
che auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und
heiligt, aus einem ewigen Willen zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Ewigkeit heraus: als
Einheitsgefühl von der Nothwendigkeit des Schaffens und Vernichtens ... Mit dem Wort
apollinisch ist ausgedrückt: der Drang zum vollkommenen Für-sich-sein, zum typischen
.Individuum“, zu Allem, was vereinfacht, heraushebt, stark, deutlich, unzweideutig,
typisch macht: die Freiheit unter dem Gesetz.
 
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