Stellenkommentar GT Versuch, KSA 1, S. 17-19 27
schleudern] Schopenhauer schreibt in seinen Parerga und Paralipomena (Zwei-
ter Band, Kapitel 5: Einige Worte über den Pantheismus, § 68, letzter Satz):
„Aber eben jener Gedanke, daß die Welt bloß eine physische, keine moralische
Bedeutung habe, ist der heilloseste Irrthum, entsprungen aus der größten Per-
versität des Geistes“. Ebenso in Kapitel 8: Zur Ethik, § 109, erster Satz.
18, 20-22 denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwen-
digkeit des Perspektivischen und des Irrthums.] Eines der großen Themen N.s,
das er vor allem in den späten Vorreden zu den Neu-Ausgaben seiner Schriften
exponiert und so auch in diesem Versuch einer Selbstkritik. Programmatisch
heißt es in der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse: „Es hiess allerdings die
Wahrheit auf den Kopf stellen und das Perspektivische, die Grundbedin-
gung alles Lebens, selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden,
wie Plato gethan hat“ (KSA 5,12, 23-26). GM III12: „Es giebt nur ein perspekti-
visches Sehen, nur ein perspektivisches ,Erkennen“4 (KSA 5, 365, 12-14). Die
Vorrede zum ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches deutet auf das
Perspektivische auch aller Wertschätzungen hin (Nr. 6): „Du solltest das Per-
spektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen - die Verschiebung, Ver-
zerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspekti-
vischen gehört“ (KSA 2, 20, 16-19).
18, 26-28 die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden,
um das Diesseits besser zu verleumden] Zum historischen Hintergrund im
19. Jahrhundert vgl. den Überblickskommentar S. 10.
19,11-13 Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen
Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens] Die Tragödien-
schrift wendet sich noch nicht gegen die Moral wie die Schriften der Umwer-
tungszeit, sondern gegen die als spätzeitlich und dekadent dargestellte Logifi-
zierung und Verwissenschaftlichung des Daseins, den „Sokratismus“. Den
„Instinkt“, den sich N. hier selbst zuschreibt, thematisiert er als Gegensatz
zum „logischen Sokratismus“ vor allem in GT 13; 90, 21-91, 14. Vgl. auch 89,
24-30.
19,17 wer wüsste den rechten Namen des Antichrist?] Die Bezeichnung „Anti-
christ“ erscheint in den Johannesbriefen der Bibel: 1. Joh. 2, 18; 2, 22; 4, 3;
2. Joh. 7. Dort ist der Antichrist ein Gegner der rechtgläubigen Lehre, also eine
polemisch konzipierte Figur. In 1. Joh. 2, 18 wird seine Erscheinung als ein
Zeichen dafür begriffen, daß die Endzeit nahe ist. In der Tradition verbindet er
sich, dämonisch gesteigert, mit dem endzeitlichen Ungeheuer der Apokalypse.
Später wurde er ein polemisches Mittel im Konfessionskampf, so bei Luther
und Melanchthon. N. verwendet die Bezeichnung als programmatischen Titel
schleudern] Schopenhauer schreibt in seinen Parerga und Paralipomena (Zwei-
ter Band, Kapitel 5: Einige Worte über den Pantheismus, § 68, letzter Satz):
„Aber eben jener Gedanke, daß die Welt bloß eine physische, keine moralische
Bedeutung habe, ist der heilloseste Irrthum, entsprungen aus der größten Per-
versität des Geistes“. Ebenso in Kapitel 8: Zur Ethik, § 109, erster Satz.
18, 20-22 denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwen-
digkeit des Perspektivischen und des Irrthums.] Eines der großen Themen N.s,
das er vor allem in den späten Vorreden zu den Neu-Ausgaben seiner Schriften
exponiert und so auch in diesem Versuch einer Selbstkritik. Programmatisch
heißt es in der Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse: „Es hiess allerdings die
Wahrheit auf den Kopf stellen und das Perspektivische, die Grundbedin-
gung alles Lebens, selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden,
wie Plato gethan hat“ (KSA 5,12, 23-26). GM III12: „Es giebt nur ein perspekti-
visches Sehen, nur ein perspektivisches ,Erkennen“4 (KSA 5, 365, 12-14). Die
Vorrede zum ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches deutet auf das
Perspektivische auch aller Wertschätzungen hin (Nr. 6): „Du solltest das Per-
spektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen - die Verschiebung, Ver-
zerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspekti-
vischen gehört“ (KSA 2, 20, 16-19).
18, 26-28 die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden,
um das Diesseits besser zu verleumden] Zum historischen Hintergrund im
19. Jahrhundert vgl. den Überblickskommentar S. 10.
19,11-13 Gegen die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen
Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens] Die Tragödien-
schrift wendet sich noch nicht gegen die Moral wie die Schriften der Umwer-
tungszeit, sondern gegen die als spätzeitlich und dekadent dargestellte Logifi-
zierung und Verwissenschaftlichung des Daseins, den „Sokratismus“. Den
„Instinkt“, den sich N. hier selbst zuschreibt, thematisiert er als Gegensatz
zum „logischen Sokratismus“ vor allem in GT 13; 90, 21-91, 14. Vgl. auch 89,
24-30.
19,17 wer wüsste den rechten Namen des Antichrist?] Die Bezeichnung „Anti-
christ“ erscheint in den Johannesbriefen der Bibel: 1. Joh. 2, 18; 2, 22; 4, 3;
2. Joh. 7. Dort ist der Antichrist ein Gegner der rechtgläubigen Lehre, also eine
polemisch konzipierte Figur. In 1. Joh. 2, 18 wird seine Erscheinung als ein
Zeichen dafür begriffen, daß die Endzeit nahe ist. In der Tradition verbindet er
sich, dämonisch gesteigert, mit dem endzeitlichen Ungeheuer der Apokalypse.
Später wurde er ein polemisches Mittel im Konfessionskampf, so bei Luther
und Melanchthon. N. verwendet die Bezeichnung als programmatischen Titel