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30 Versuch einer Selbstkritik

1857 erschien die erste deutsche Übersetzung von Boscowitz, 1867 eine zweite
von Ölckers. N. arbeitete, wie die Lesespuren in seinem Handexemplar zeigen,
intensiv John Stuart Mills Abhandlung zu Tocquevilles Werk über die Demokra-
tie in Amerika durch (im 11. Band der deutschen Übersetzung von Mills Gesam-
melten Werken, vgl. Campioni S. 388), in Basel nahm er Tocqueville auch durch
Vermittlung Jacob Burckhardts und ebenfalls wohl Johann Jakob Bachofens
auf, d. h. durch eine einseitige, antidemokratisch gefärbte Tocqueville-Rezep-
tion. Beide gingen, wie dann auch N., nicht von den soziologischen Analysen
Tocquevilles aus, sondern von ideengeschichtlichen und kulturphilosophi-
schen Thesen, die ihrerseits schon kulturpessimistisch eingefärbt waren.
Burckhardt, der auf weite Kreise ausstrahlte, huldigte einem aristokratischen
Ästhetizismus, zu dem N. mit seinem (oft auf die philosophische Dimension
verkürzten) Diktum, nur als ästhetisches Phänomen sei die Welt gerechtfertigt,
große Affinität zeigte. Burckhardt verteidigte die traditionelle Privilegienord-
nung als Garantie für die Sekurität des Kulturgenusses, den N. geradezu ins
Kultische erhob. Der Pariser Kommune-Aufstand von 1871 alarmierte Burck-
hardt und N. gleichermaßen, weil sie darin den drohenden Untergang der Kul-
turwelt sahen (vgl. den Kommentar zu 122, 32-123, 4). Heinrich von Treitschke
setzte in seinem gleichzeitig mit GT erschienenen Werk Das konstitutionelle
Königtum in Deutschland (1869-1871) die einseitige Tocqueville-Interpretation
fort. Er wies allerdings dem preußisch-deutschen Staat die Aufgabe zu, „dem
demokratischen Widerwillen gegen alle wahrhaft bedeutenden Menschen“ und
dem allgemeinen „Banausentum einer demokratischen Epoche“ zum Trotz das
kulturelle Erbe zu sichern und geniale Leistungen zu fördern; Burckhardt dage-
gen setzte nicht optimistisch auf den Machtstaat, sondern wollte so lange wie
möglich eine alte „Kultur“ erhalten, die das Individuum begünstigte. Eben des-
halb aber war er angesichts der modernen Entwicklungen pessimistisch.
20, 22-25 von der jetzigen deutschen Musik, als welche Romantik durch
und durch ist [...] überdies aber eine Nervenverderberin ersten Ranges] In Nietz-
sche contra Wagner heißt es, „dass die französische Romantik und Richard
Wagner auf’s Engste zu einander gehören“ (KSA 6, 428, 10-12 - Vorlage ist
JGB 256, KSA 5, 202). Daß Wagners Musik dekadent und wie eine Nervenkrank-
heit ist, welche Nerven reizt und sogar verdirbt, wird zum Leitmotiv der Schrift
Der Fall Wagner. „Alles zusammen stellt ein Krankheitsbild dar, das keinen
Zweifel lässt. Wagner est une nevrose“ (KSA 6, 22, 32f.). „Gerade, weil
Nichts moderner ist als diese Gesammterkrankung, diese Spätheit und Über-
reiztheit der nervösen Maschinerie, ist Wagner der moderne Künstler par
excellence“ (KSA 6, 23, 4-7). „Wagner ist ein grosser Verderb für die Musik. Er
hat in ihr das Mittel errathen, müde Nerven zu reizen“ (KSA 6, 23, 12 f.). „Am
unheimlichsten freilich bleibt die Verderbniss der Nerven“ (KSA 6, 44, 17 f.). In
 
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