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Stellenkommentar GT Versuch, KSA 1, S. 20-21 31

der Urfassung des Versuchs einer Selbstkritik heißt es: „Wo giebt es jetzt einen
gleichen Morast von Unklarheit und krankhafter Mystik als bei den Wagneria-
nern? Es gab glücklicherweise für mich eine Stunde der Erleuchtung darüber,
wo ich hingehöre jene Stunde, wo Richard Wagner mir von den Entzückun-
gen sprach, die er dem christlichen Abendmahle abzugewinnen wisse. Er hat
später auch noch Musik dazu [+ + +] gemacht“ (KSA 14, 44).
20, 25-28 doppelt gefährlich bei einem Volke, das den Trunk liebt und die
Unklarheit als Tugend ehrt, nämlich in ihrer doppelten Eigenschaft als berau-
schendes und zugleich benebelndes Narkotikum.] Zur „Unklarheit“ vgl. die
abschließende Erläuterung zu 20, 22-25. Der Alkohol ist ein Modethema der
Zeit, als „Narkotikum“ neben anderen Rauschmitteln in der französischen
Decadence-Literatur (u.a. bei Baudelaire) sowie als biologisches und soziales
Problem in der Literatur des Naturalismus, der den Alkoholismus sogar für
erblich hielt (vgl. etwa Gerhart Hauptmanns Drama Vor Sonnenaufgang, 1889).
Schon in der Fröhlichen Wissenschaft (1882) zeigt sich N.s Interesse an den
„Narkotika“. Von den „Asiaten“ heißt es darin (1. Buch, 42. Aphorismus, KSA 3,
409, 24-26): „selbst ihre Narcotica wirken langsam und verlangen Geduld, im
Gegensatz zu der widrigen Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alko-
hols“. In der ein Jahr nach dem Versuch einer Selbstkritik entstandenen Schrift
Zur Genealogie der Moral (1887) diagnostiziert N. in der „Alkohol-Vergiftung
Europas“ das „eigentliche Verhängniss in der Gesundheitsgeschichte
des europäischen Menschen“ (3. Abhandlung, 21. Aphorismus, KSA 5, 392, 21-
23). In der Götzen-Dämmerung (1887) heißt es: „dies Volk [die Deutschen] hat
sich willkürlich verdummt [...] nirgendswo sind die zwei grossen europäischen
Narcotica, Alkohol und Christenthum, lasterhafter gemissbraucht worden“.
Vgl. zu den Lektüre-Vorlagen N.s NK KSA 6, 104, 12-15. N. fährt fort: „wie viel
Bier ist in der deutschen Intelligenz! Wie ist es eigentlich möglich, dass junge
Männer, die den geistigsten Zielen ihr Dasein weihn, nicht den ersten Instinkt
der Geistigkeit, den Selbsterhaltungs-Instinkt des Geistes in sich
fühlen - und Bier trinken? ... Der Alkoholismus der gelehrten Jugend ist viel-
leicht noch kein Fragezeichen in Absicht ihrer Gelehrsamkeit - man kann ohne
Geist sogar ein grosser Gelehrter sein -, aber in jedem andren Betracht bleibt
er ein Problem. - Wo fände man sie nicht, die sanfte Entartung, die das Bier
im Geiste hervorbringt!“ (Was den Deutschen abgeht, 2. Aphorismus, KSA 6,
104, 12-29). In dem von N. während der 80er Jahre intensiv rezipierten franzö-
sischen Schrifttum konnte er die infolge der antideutschen Stimmung nach
dem vorangegangenen Krieg beliebte Darstellung der Deutschen als eines grob-
schlächtigen Säufer-Volks finden.
21, 3-11 der tiefe Hass gegen „Jetztzeit“, „Wirklichkeit“ und „moderne Ideen“
[...] Alles, was „jetzt“ ist, ein Wille, welcher nicht gar zu ferne vom praktischen
 
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