Überblickskommentar: Konzeption 55
Erwin Rohde vom 3. oder 4. Mai 1868 im Hinblick auf die beiden gemeinsame
Berufswahl die Losung ausgegeben: „Soyons de notre siede“ und hinzugefügt:
„ein Standpunkt, den niemand leichter vergißt als der zünftige Philolog“
(KSB 2, Nr. 569, S. 275, Z. 33-35). N. ging es mit seiner negativen Darstellung
sowohl des Euripides wie des Sokrates weniger um diese Gestalten und ihr
Denken an sich, als vielmehr um die Paradigmatisierung von Figuren im Sinne
einer Niedergangsgeschichte, die auf die eigene Zeit gemünzt war. Alles, was
er über Euripides und Sokrates sagt, hat kaum eigenes Gewicht, sondern ist
,ferngesteuert4 von der Kulturkritik an seiner Zeit und von der Intention, die
„Wiedergeburt der Tragödie“ bei Wagner vor dem dunklen Hintergrund einer
Untergangsgeschichte als epochales Ereignis ins Licht zu stellen.
Deshalb durfte auch die um 1600 in Italien beginnende Geschichte der
neuzeitlichen Oper nicht schon als „Wiedergeburt“ der antiken Tragödie mit
ihrer Verschmelzung von Musik und Wort erscheinen, obwohl die italienischen
Komponisten und Librettisten in dieser Spätphase der Renaissance, die ja
ihrem Selbstverständnis nach insgesamt eine Wiedergeburt der Antike sein
sollte, ihre Opernkonzeption ausdrücklich auch als eine „Renaissance“, als
eine Wiedergeburt der antiken Tragödie verstanden. Weil N. einen epochalen
Neu-Anfang durch Wagners Oper markieren will, stellt er wie schon Wagner
selbst in seiner Schrift Oper und Drama die italienische Entstehungsgeschichte
der neuzeitlichen Oper als Entartung dar (GT 19), und deshalb erwähnt er mit
keinem Wort das spätere Opernschaffen von Händel, Gluck und Mozart bis hin
zu Wagners großem zeitgenössischen Konkurrenten Verdi. Die Opernbühne vor
und neben Wagner sollte leergeräumt werden, damit dessen in Bayreuth
unmittelbar bevorstehender Auftritt umso triumphaler als Neu-Beginn erschei-
nen konnte.
Trotz dieser Strategie und trotz der wiederum von Schopenhauers Meta-
physik bestimmten Hinweise auf Tristan und Isolde im 21. und 22. Kapitel blei-
ben die Aussagen zur „Wiedergeburt der Tragödie“ in Gestalt von Wagners
Musikdrama dann allerdings vage. N. beschwört den „dionysischen Geist“, der
in den letzten Kapiteln immer mehr in den „deutschen Geist“, in die „deutsche
Musik“, in den „deutschen Mythus“, schließlich in das „deutsche Wesen“ und
sogar in die „deutschen Dinge“, endlich in den von Wagner repräsentierten
„deutschen Genius“ übergeht. In den Jahren nationaler Erregung durch den
deutsch-französischen Krieg, in einer Zeit, in der überall im Europa des
19. Jahrhunderts der Nationalismus auch zu einer nationalen Zurichtung von
Kultur und Kulturgeschichte führte, verlieh N. seinem Plädoyer für Wagner
entsprechend aktuellen Appellcharakter. Zwar wurden ihm die nationalen
Töne bald schon peinlich. Aber in dieser Phase seines Schaffens sollte nach
der bereits eine Generation früher errichteten Walhalla, dem „Ruhmestempel“
Erwin Rohde vom 3. oder 4. Mai 1868 im Hinblick auf die beiden gemeinsame
Berufswahl die Losung ausgegeben: „Soyons de notre siede“ und hinzugefügt:
„ein Standpunkt, den niemand leichter vergißt als der zünftige Philolog“
(KSB 2, Nr. 569, S. 275, Z. 33-35). N. ging es mit seiner negativen Darstellung
sowohl des Euripides wie des Sokrates weniger um diese Gestalten und ihr
Denken an sich, als vielmehr um die Paradigmatisierung von Figuren im Sinne
einer Niedergangsgeschichte, die auf die eigene Zeit gemünzt war. Alles, was
er über Euripides und Sokrates sagt, hat kaum eigenes Gewicht, sondern ist
,ferngesteuert4 von der Kulturkritik an seiner Zeit und von der Intention, die
„Wiedergeburt der Tragödie“ bei Wagner vor dem dunklen Hintergrund einer
Untergangsgeschichte als epochales Ereignis ins Licht zu stellen.
Deshalb durfte auch die um 1600 in Italien beginnende Geschichte der
neuzeitlichen Oper nicht schon als „Wiedergeburt“ der antiken Tragödie mit
ihrer Verschmelzung von Musik und Wort erscheinen, obwohl die italienischen
Komponisten und Librettisten in dieser Spätphase der Renaissance, die ja
ihrem Selbstverständnis nach insgesamt eine Wiedergeburt der Antike sein
sollte, ihre Opernkonzeption ausdrücklich auch als eine „Renaissance“, als
eine Wiedergeburt der antiken Tragödie verstanden. Weil N. einen epochalen
Neu-Anfang durch Wagners Oper markieren will, stellt er wie schon Wagner
selbst in seiner Schrift Oper und Drama die italienische Entstehungsgeschichte
der neuzeitlichen Oper als Entartung dar (GT 19), und deshalb erwähnt er mit
keinem Wort das spätere Opernschaffen von Händel, Gluck und Mozart bis hin
zu Wagners großem zeitgenössischen Konkurrenten Verdi. Die Opernbühne vor
und neben Wagner sollte leergeräumt werden, damit dessen in Bayreuth
unmittelbar bevorstehender Auftritt umso triumphaler als Neu-Beginn erschei-
nen konnte.
Trotz dieser Strategie und trotz der wiederum von Schopenhauers Meta-
physik bestimmten Hinweise auf Tristan und Isolde im 21. und 22. Kapitel blei-
ben die Aussagen zur „Wiedergeburt der Tragödie“ in Gestalt von Wagners
Musikdrama dann allerdings vage. N. beschwört den „dionysischen Geist“, der
in den letzten Kapiteln immer mehr in den „deutschen Geist“, in die „deutsche
Musik“, in den „deutschen Mythus“, schließlich in das „deutsche Wesen“ und
sogar in die „deutschen Dinge“, endlich in den von Wagner repräsentierten
„deutschen Genius“ übergeht. In den Jahren nationaler Erregung durch den
deutsch-französischen Krieg, in einer Zeit, in der überall im Europa des
19. Jahrhunderts der Nationalismus auch zu einer nationalen Zurichtung von
Kultur und Kulturgeschichte führte, verlieh N. seinem Plädoyer für Wagner
entsprechend aktuellen Appellcharakter. Zwar wurden ihm die nationalen
Töne bald schon peinlich. Aber in dieser Phase seines Schaffens sollte nach
der bereits eine Generation früher errichteten Walhalla, dem „Ruhmestempel“