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56 Die Geburt der Tragödie

großer deutscher Vergangenheit, eine Kultstätte großer deutscher Zukunft in
Bayreuth entstehen.
Im Spannungsfeld zwischen Vergangenheit und Zukunft steht die in der
Tragödienschrift so häufig zu findende und zum Schluß hin immer mehr in
den Vordergrund tretende Kritik der „Cultur“. In diese Kritik bezieht N. auch
den Zustand seines Faches, der Klassischen Philologie, und die Kritik an der
humanistischen ,Bildung4 im 19. Jahrhundert ein (hierzu ausführlich der Über-
blickskommentar zu GT 20, S. 360-362). Den zentralen Parameter bildet die
Konzeption des „Dionysischen“. Alles, so heißt es schon in dem dann für Zara-
thustra charakteristischen Prophetenton, „was wir jetzt Cultur, Bildung, Civili-
sation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen
müssen“ (128, 5-7). Was N. hier mit dem eschatologischen Pathos eines Jüngs-
ten Gerichts ankündigt, ist das von ihm selbst schon in der Tragödienschrift
geübte Verfahren radikaler Kulturkritik. Dionysos fungiert von Anfang an als
Symbol des unergründlich Irrationalen, das aller „Erkenntniß“, allem „Wis-
sen“ und erst recht aller „Wissenschaft“, „Bildung“ und „Cultur“ spottet. Es
läßt sich allenfalls mit der „Analogie des Rausches“ (28, 33) umschreiben und
tut sich aus dem „Abgrund“ des Seins und des unermüdlich beschworenen
„Ur-Einen“ kund, aber nur demjenigen, der seine Gewißheit auf Intuition zu
gründen vermag - der „zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung“ gelangt
ist, wie es programmatisch schon im ersten Satz heißt (25, 3f.). Von dieser
apriorischen Instanz des Dionysisch-Irrationalen leitet sich, in systematischer
Perspektive, eine prinzipielle Radikalität der Kulturkritik her, vor der alles
zuschanden werden muß. Vor dem dionysischen, vorindividuellen Sein des
Ur-Einen, dessen künstlerische Manifestation eine entsprechend ideologisch
besetzte „Musik“ ist (eine nachgelassene Notiz vom Frühjahr 1871 lautet: „Der
Ursprung der Musik liegt jenseits aller Individuation“, NL 1871,
KSA 7,12[1], 365,10-12), kann nichts im Prozeß der Individuation Entstandenes
bestehen. Daher die leitmotivische Berufung auf das „principium individuatio-
nis“, das N. mit Schopenhauer und in Anlehnung an den Spruch des Anaxi-
mander nur nennt, um im Gegenzug den von ihm „dionysisch“ interpretierten
Prozeß der Entindividualisierung zu betonen.
Als übergreifende Phänomene der „Cultur“ und „Bildung“ im 19. Jahrhun-
dert kritisiert N. die Historie und eine wissenschaftliche Rationalität, die er in
der Tragödienschrift als „Sokratismus“ etikettiert. Die Kritik reicht aber
zugleich ins Grundsätzliche, da sich schlechthin alle „Cultur“ historisch aus-
prägt, rationaler Strukturen bedarf und sich in bestimmten Formen individua-
lisiert. Obwohl N. vor allem in den Anfangspartien seine Kulturkritik auf ihre
metaphysisch-prinzipiellen Voraussetzungen hin transparent zu machen sucht,
ist sie motiviert von der Wahrnehmung „unserer ermüdeten Cultur“ (131, 34),
 
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