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Überblickskommentar: Konzeption 59

er allerdings im Besonderen dafür verantwortlich macht. Zwar wollte N. Wag-
ner huldigen, indem er dessen „Musikdrama“ mit der griechischen Tragödie
analogisierte, aber diesen Hauptzweck verliert er auf weiten Strecken aus den
Augen, da er das „Wort“, den Dialog und die Handlung, die für Wagner doch
so wichtig sind, nicht bloß zu Sekundärphänomenen, sondern zu Niedergangs-
symptomen erklärt.
Über die Problematik der „Geburt“, des Niedergangs und der „Wiederge-
burt“ der Tragödie hinaus reicht die Erhebung der „Kunst“ zu einem letzten
Garanten von Sinn-Erfahrung. N. geht so weit, daß er diese Funktion der Kunst
sogar auf die Welt im Ganzen überträgt, deren Dasein seiner leitmotivisch wie-
derholten These zufolge nur als aesthetisches Phänomen gerechtfertigt erscheint
(vgl. den ausführlichen Kommentar zu 47, 23-30). In der christlichen Tradition
hatte die Lehre von der Rechtfertigung einen religiösen Sinn als Rechtfertigung
im Glauben. N. überträgt sie von der Sphäre religiösen Glaubens auf die der
Kunst, weil ihm, und darin stimmte er mit dem befreundeten Basler Theologen
Franz Overbeck überein, das Christentum abgewirtschaftet und zu „schwach“
erschien, um noch Sinnerfahrung zu vermitteln. Die Kunst tritt für ihn an die
Stelle der Religion. Besonders deutlich und bereits historisch reflektierend for-
muliert N. dies in einem nachgelassenen Notat, das er im Jahr 1871, also wäh-
rend der Entstehung der Tragödienschrift niederschrieb: „Die Kun st periode
ist eine Fortsetzung der mythen- und religionbildenden Periode. / Es ist
e i n Quell, aus dem Kunst und Religion fließt. / Jetzt ist es gerathen, die Reste
des religiösen Lebens zu beseitigen, weil sie matt und unfruchtbar
sind und die Hingebung an ein eigentliches Ziel abschwächen. Tod dem
Schwachen!“ (NL 1871, KSA 7, 9[94], 309). Noch deutlicher NL 1871, KSA 7,
3[60], 76: „Die Auflösung der noch lebenden religiösen Empfindungen in’s
Bereich der Kunst - dies ist das praktische Ziel“. Doch plädiert N. nicht einfach
für einen Ablösungs- und Übertragungsvorgang, vielmehr geht das Pathos des
Absoluten von der Religion auf die Kunst über, so daß die Tragödienschrift
auch ein Zeugnis spätromantischer Kunstreligion ist. Rückblickend notiert N.
(NL 1878, KSA 8, 27[79], 500): „Ich war verliebt in die Kunst mit wahrer Leiden-
schaft und sah zuletzt in allem Seienden nichts als Kunst“.
Besondere Probleme wirft der Stil der Tragödienschrift auf. N. lagerte in
seine Darstellung eines „Geburts“-Ereignisses, einer Niedergangsgeschichte
und schließlich einer „Wiedergeburt der Tragödie“ durch Wagner so viele
nebensächliche Ausführungen, so viel Assoziatives und so viel altphilologi-
schen Wissensballast aus dem noch unsicheren, aber autoritativ zur Schau
gestellten Repertoire des jungen Universitätsgelehrten ein, daß die Erstlings-
schrift schwer überschaubar wirkt. Überdies ermüdet sie durch zahlreiche
Redundanzen, überbordende Metaphorik und eine ausschweifende Rhetorik,
 
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