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64 Die Geburt der Tragödie

in MA überwunden habe, um zu sich selbst zu finden. Retrospektiv stellt er
eine psychologische Diagnose, derzufolge er sein „entscheidendes Ereigniss in
einer grossen Loslösung gehabt hat“ (KSA 2, 15, 29 f.) und dadurch selbst
zu einem „freien Geist“ geworden ist. Der freie Geist beweist sich mit einer
ständig wachen Bereitschaft zur Kritik, während N. aus der antiaufklärerischen
Haltung, die er noch in GT eingenommen hatte, den „Kritiker“ ablehnte (vgl.
143, 12 f. und den ausführlichen Kommentar).
Dementsprechend konzipierte N. auf weiten Strecken MA als Selbstrevision
gegenüber der Tragödienschrift und den Unzeitgemäßen Betrachtungen. Es gibt
nicht mehr den zum Metaphysisch-Absoluten erhobenen „Geist der Musik“,
sondern nur den „Geist seiner Musik“, nämlich denjenigen der Musik
Wagners, die er nun nicht mehr als überhistorische Macht verherrlicht, son-
dern historisch relativiert und sogar schon, wie dann vollends im Spätwerk,
zum Niedergangssymptom abwertet, „denn sie entsprang aus einer Cultur, die
im raschen Absinken begriffen ist“ - ihr Boden sei die „Reactions- und Restau-
rations-Periode“ (KSA 2, 450, 33-451, 1). In GT wie in der vierten der Unzeitge-
mäßen Betrachtungen: Richard Wagner in Bayreuth war Wagners Musik noch
nicht Symptom einer schon im Niedergang befindlichen Vergangenheit, son-
dern schien im Gegenteil eine alles erneuernde „Zukunft“ zu verheißen, ganz
nach Wagners eigenen Vorgaben (vgl. KSA 1, 102, 9 f. und 506-512, sowie die
Kommentare hierzu). Der aufklärerischen Gesamtperspektivierung von MA ent-
sprechend heißt es nun, der „Geist seiner Musik [...] führt den aller-
letzten Kriegs- und Reactionszug an gegen den Geist der Aufklärung“ (KSA 2,
451, 16-19). N. leitet diese Diagnose aus Wagners Rückwendung zum romanti-
sierten Mittelalter, zum „heimisch-nationalen Wesen und Urwesen“
sowie aus einem „Katholicismus des Gefühls“ (KSA 2, 451, 2f.) her -
aus einer durchgehenden Reaktion gegen die Moderne.
Auch von der anderen Leitfigur seiner Frühschrift, von Schopenhauer,
rückt N. trotz eines fortdauernden Respekts deutlich ab. Die für Schopenhauer
zentrale Konstellation von „Wille“ und „Vorstellung“, die er in GT adaptiert,
spielt nun keine Rolle mehr; Schopenhauers Lehre von der intelligiblen Frei-
heit und der daraus begründeten moralischen Verantwortlichkeit greift er von
einem naturalistischen Standpunkt aus an (KSA 2, 62-64, MA I, Nr. 39); in
einer ganzen Sequenz von Aphorismen gegen christliche Wertungen und die
„religiösen Nachwehen“ (Nr. 131, S. 124) zielt er auch auf Schopenhauer, insbe-
sondere auf dessen Idealisierung von Askese und Heiligkeit sowie auf die Vor-
stellung der Erlösung (Nr. 130-142, S. 123-140). Kritisch historisiert er die Figur
des „Heiligen“ bei Schopenhauer: „In dem abendlichen Glanze einer Weltun-
tergangs-Sonne, welche über die christlichen Völker hinleuchtete, wuchs die
Schattengestalt des Heiligen in’s Ungeheure: ja bis zu einer solchen Höhe, dass
 
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