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Überblickskommentar: Stellenwert 71

rent begonnen wurde, während eines Winters, welcher es mir erlaubte, Halt
zu machen wie ein Wandrer Halt macht und das weite und gefährliche Land
zu überschauen, durch das mein Geist bis dahin gewandert war. Dies geschah
im Winter 1876-77; die Gedanken selbst sind älter. Es waren in der Hauptsache
schon die gleichen Gedanken, die ich in den vorliegenden Abhandlungen wie-
der aufnehme“ (KSA 5, 248, 5-16). Zwar spricht N. nur von schon älteren, vor
MA gefassten Gedanken, ohne auf GT hinzuweisen, aber die dort zum Aus-
druck kommende Vorstellung, daß die Daseinsauffassung, welche die Griechen
in der Gestalt ihrer Götter ausprägten, „alles Vorhandene vergöttlicht“ und
zwar „gleichviel ob es gut oder böse ist“, läßt in der Tat schon eine Vorform
des Konzepts Jenseits von Gut und Böse‘ erkennen.
Die in MA vollzogene Historisierung, durch die N. die „Herkunft“ der
Begriffe Gut und Böse klären wollte, übernimmt er in die Schrift Zur Genealogie
der Moral, indem er die Bedingungen, unter denen die Menschen zu jenen
Werturteilen gelangten, weiterhin auf gesellschaftliche Wertungen zurückführt
und ihnen insofern jedwede metaphysische Legitimation abspricht. Grundsätz-
lich behält er die realistisch-pragmatische Orientierung bei, die er bei den eng-
lischen Utilitaristen und Darwinisten sowie in Paul Rees Werk Der Ursprung
der moralischen Empfindungen (1877) studieren konnte. Den Titel dieses Werks
nennt er ausdrücklich in der Vorrede zu GM (KSA 5, 250, 24 f.). Aber er distan-
ziert sich nun von der spezifisch utilitaristischen Begründung der Moralvorstel-
lungen, die er als „englisch“ bezeichnet, nachdem er sie besonders bei dem
von ihm herangezogenen John Stuart Mill kennen gelernt hatte. Er besaß des-
sen Werke in deutscher Übersetzung und arbeitete sie intensiv durch, wie die
zahlreichen Lesespuren und Annotationen zeigen. Dies gilt nicht zuletzt für
Mills Utilitarianism (,Das Nützlichkeitsprinzip4 als Grundlage der Moral). In
dem 1886 der neuen Ausgabe von GT vorangestellten ,Versuch einer Selbstkri-
tik4 zieht er gerade gegen diese moralphilosophische Inthronisierung des Nütz-
lichkeitsprinzips zu Felde (vgl. den Überblickskommentar zum ,Versuch einer
Selbstkritik4, S. 7f.). An die Stelle des ,englischen4 Nützlichkeitsprinzips als
Grundlage einer gesellschaftlich allgemein bekömmlichen und insofern huma-
nitären Moral setzt er eine auf dem Prinzip der Macht basierende Moral.
In diesem auf gesellschaftliche Trennung, auf Herrschafts- und Unterdrü-
ckungsverhältnisse ausgerichteten und sie legitimierenden Konzept definiert
N. Gut und Böse „aus der Sphäre der Vornehmen und der der Sklaven“ (KSA 5,
251, 10 f.). Wie interessengelenkt diese Herleitungs- und Begründungsversuche
sind, geht schon aus den ursprünglich für GT vorgesehenen, aber dann doch
nicht veröffentlichten Ausführungen hervor, mit denen er im Interesse einer
privilegierten Elite vehement für die Beibehaltung der Sklaverei und für eine
totale Versklavung der europäischen Arbeiterschaft plädiert (hierzu der aus-
 
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