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76 Die Geburt der Tragödie

bedeutenden Wissenschaftlers, des Bonner klassischen Philologen Hermann
Usener ausfiel, berichtet N. selbst in einem Brief an Erwin Rohde: „In Leipzig
ist eine Stimme über meine Schrift: wie sie lautet, hat der brave und von mir
sehr geachtete Usener in Bonn, vor seinen Studenten, die ihn gefragt haben,
verrathen ,es sei der baare Unsinn, mit dem rein gar nichts anzufangen sei:
jemand, der so etwas geschrieben habe, sei wissenschaftlich todt“‘ (25.10.1872,
KSB 4, Nr. 265, S. 70, Z. 20 u. S. 71, Z. 1). Gekränkt und hochmütig notierte N.
in der Zeit zwischen Sommer 1872 und Anfang 1873: „Die Philologen dieser
Zeit haben sich als unwürdig erwiesen, mich und mein Buch zu sich rechnen
zu dürfen: es bedarf kaum der Versicherung, daß auch in diesem Falle ich es
ihnen anheim gebe, ob sie etwas lernen wollen oder nicht, fühle mich aber
nicht geneigt, ihnen irgendwie entgegenzukommen. / Das was sich jetzt Philo-
logie4 nennt und was ich mit Absicht nur neutral bezeichne, möge auch dies-
mal mein Buch übersehen: denn es ist männlicher Natur und taugt nicht für
Castraten. Denen geziemt vielmehr am Conjekturenwebstuhl zu sitzen“ (NL
1872/1873, KSA 7, 19[58], 437, 21-438, 5). Von jetzt ab füllen sich N.s Notizhefte
mit bitter abwertenden Urteilen über die „Gelehrten“. Daß er tatsächlich seinen
wissenschaftlichen Ruf verloren hatte, geht auch daraus hervor, daß die Stu-
denten der klassischen Philologie, von denen es in Basel ohnehin nur wenige
gab, nun seine Vorlesungen mieden. In einem Brief an den Freund Erwin
Rohde vom März 1873 heißt es: „In diesem Semester [im Wintersemester 1872/
73] hatte ich es zu zwei Zuhörern gebracht, der eine war Germanist, der andre
Jurist, beiden trug ich Rhetorik vor!“ (KSB 4, Nr. 300, S. 137, Z. 78-80). Und
bald darauf, am Beginn des Sommersemesters 1873, beschließt er einen auf
den 5. Mai datierten Brief an Rohde mit den Worten: „Ich dachte, es würden
während des Briefschreibens einige Herrn Studenten kommen, um zu meinem
Collegio sich anzumelden. Denn es war meine Stunde; aber es ist keiner
gekommen. Wehe! Wehe!“ (KSB 4, Nr. 307, S. 151, Z. 70-73). Sowohl für N.s
nahes Verhältnis zu Wagner wie für die verheerende Wirkung der Tragödien-
schrift aufschlußreich ist der Brief an Richard Wagner vom 7./8. November 1872.
„Geliebter Meister“ redet er ihn an, um alsbald mitzuteilen: „unser Winterse-
mester hat begonnen und ich habe gar keine Studenten! Unsre Philologen sind
ausgeblieben! Es ist eigentlich ein Pudendum und ängstlich vor aller Welt zu
verschweigen. Ihnen, geliebter Meister, erzähle ich es, weil Sie alles wissen
sollen. Das Factum ist nämlich so leicht zu erklären - ich bin unter meiner
Fachgenossenschaft plötzlich so verrufen geworden, dass unsre kleine Univer-
sität Schaden leidet! Das quält mich sehr [...] Doch entspricht es dem, was mir
aus andern Universitätsstädten zu Ohren kommt [...] alles verurtheilt mich und
selbst diejenigen ,die mich kennen4 kommen nicht über den Standpunct
hinaus, mich wegen dieser ,Absurdität4 zu bemitleiden. [...] So ist mir denn
 
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