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Überblickskommentar: Wirkung 79

nicht ohne auf seine „Entdeckung“ in der Frühschrift hinzuweisen sowie deren
psychologische, insbesondere kulturpsychologische Bedeutung ins Licht zu
stellen. In Ecce homo rühmte er sich, er habe mit dem Dionysischen auch
„dessen erste Psychologie“ gegeben (KSA 6, 310, 17).
Hatte N. in Ecce homo vom „wundervollen Phänomen des Dionysischen“
gesprochen (KSA 6, 311, 5) und sich damit nach der Anfechtung durch Scho-
penhauers Lebensverneinung zu einer euphorisch übersteigerten Lebensbeja-
hung bekannt, so kam die zerstörerische „andere“ Seite des Dionysos vor allem
im Fin de siede und noch einige Zeit darüber hinaus zum Vorschein. Er wurde
auch zu einem Mythologem der Decadence selbst. Elektra im gleichnamigen
Drama Hofmannsthals (1903) treibt ihren psychischen Selbstzerstörungsprozeß
zum Extrem, indem sie am Ende wie eine „Mänade“ - so heißt es ausdrück-
lich - tanzt und sich zu Tode tanzt. Schnitzlers Drama Der einsame Weg, eines
seiner Meisterwerke (ebenfalls 1903), ist von einer dionysischen Todesmotivik
durchzogen, zu der „apollinische“ Gegenmotive den Kontrapunkt bilden. Und
nach dem Muster, das N.s Freund Rohde in seinem Werk Psyche. Seelencult und
Unsterblichkeitsglaube der Griechen (1894, 2. Auflage 1898) entwarf, beschwor
Thomas Mann 1912 in seiner Erzählung Der Tod in Venedig den „fremden Gott“
als Dämon einer entsittlichenden und tödlich entgrenzenden Decadence-Erfah-
rung. Auch er brachte die „apollinische“ Gegendimension zur Geltung (beson-
ders im 4. Kapitel). Schließlich reflektierte Thomas Mann im Zauberberg den
psychologischen Zusammenhang von Decadence-Erfahrung und dionysischem
Lebensrausch. Parodistisch gestaltete er Mynheer Peeperkorn zu einer ebenso
exuberanten wie todverfallenen Bacchus-Figur aus. Vor dekadent-krankhaften
Bedrohungen flüchtet Peeperkorn in den Lebensrausch, der schon bald tödlich
endet. Gottfried Benn pointierte den irrationalistischen Kult des Dionysischen,
indem er seine expressionistische Szene Ithaka (1916) in die Worte einmünden
ließ: „Wir wollen den Rausch. Wir rufen Dionysos [...]!“ (Gottfried Benn: Sämtli-
che Werke, Stuttgarter Ausgabe, hg. von G. Schuster und H. Hof, Bd. VII, 1,
Stuttgart 2003, S. 16).
Noch lange wirkte in Literatur, Kunst und Kulturbetrieb das „Dionysische“
nach (vgl. Max L. Baeumer: Das moderne Phänomen des Dionysischen und seine
,Entdeckung‘ durch Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien, Bd. 6, 1977,
S. 123-153), auch aufgrund des durch die Tragödienschrift beförderten neuen
Interesses am Grundwerk der Dionysos-Mythologie und -Psychologie: an den
Bakchen des Euripides. Sie inspirierten noch die Oper Die Bassariden, die Hans
Werner Henze nach dem Libretto von Wystan Hugh Auden und Chester Kall-
man für die Salzburger Festspiele 1966 komponierte und die ebenso wie die
Bakchen selbst die moderne Bühne bis in die Gegenwart eroberte.
Auch in der Wissenschaft, die doch zuerst so ablehnend reagiert hatte,
fand das „Dionysische“ schließlich noch seinen Platz: sowohl in der Altertums-
 
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