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Überblickskommentar: Wirkung 81

„apollinische“ Phänomen des damals aktuellen Neoklassizismus und auf spät-
bürgerliche Ordnungsformen, die durch dekadente Unterhöhlung schließlich
einem „dionysischen“ Untergang zutreiben. Ein Erfolgsbuch seit Beginn der
Zwanziger Jahre und noch auf Jahrzehnte hinaus war Carl Gustav Jungs Werk
Psychologische Typen, das ein eigenes Kapitel Das Apollinische und Dionysische
enthält. Das Apollinische gerät hier zum introvertierten Habitus, in dem sich
das Ich auf sich selbst zurückzieht, das Dionysische dagegen, das Jung in der
Sphäre des Unbewußten ansiedelt, zum chaotischen Hinausströmen libidinö-
ser Triebkräfte. Unter dem Eindruck der im Ersten Weltkrieg entfesselten Zer-
störungsenergien kommt es auch hier zu einer zeitdiagnostischen Applikation:
Das Dionysische wertet Jung keineswegs als rauschhaft produktiv, sondern als
verhängnisvoll destruktiv, wie der moderne Krieg zeige. Vgl. ferner das Material
bei Martin Vogel: Apollinisch und Dionysisch. Geschichte eines genialen Irrtums,
Regensburg 1966, S. 195-218. Das erstmals 1933 erschienene, suggestiv formu-
lierte und bis in die Gegenwart immer wieder neu aufgelegte Buch von Walter
F. Otto: Dionysos. Mythos und Kultus war zwar kein Nietzsche-Buch, es kam
aus der Sphäre der klassischen Philologie und aus religionswissenschaftlichem
Interesse, aber im Anschluß an N. propagierte es eine dionysische Religion im
Zeichen des „Lebens“. In N.s Sinn auch ontologisierte Walter F. Otto seinen
Dionysos, und aus dieser Ontologisierung ergibt sich ein zeittypisches existen-
tialistisches Pathos. Beides entsprach einer „dionysischen Weltanschauung“ -
so lautete schon die Titelformulierung N.s für eine Vorstufe seiner Tragödien-
schrift - mit neopaganem ideologischem Anspruch.
Der mit N.s Erstling beginnende und in seinen Spätschriften delirant
gesteigerte moderne Dionysoskult, der sich schon in der Tragödienschrift mit
ehemals religiösen Leitbegriffen wie „Glaube“, „Hoffnung“ und „Erlösung“
verband (vgl. den Kommentar zu 132, 16-19), verhieß zwar keinen Himmel,
aber doch, mit der gleichen Emphase, „Zukunft“ - ein Lieblingsthema auch
Wagners. N. selbst hatte schon in der Geburt der Tragödie ausdrücklich das
„dionysische Leben“ (KSA 1,132, 11) gegen den ,Sokratismus‘ der „Erkenntniß“
und des „Verstandes“ gestellt. Er befeuerte damit den Irrationalismus einer
späteren Epoche. Unter dem Eindruck der deutschen Katastrophe schrieb Tho-
mas Mann 1947 in seinem Essay Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfah-
rung die Sätze: „Als ob es nötig wäre, das Leben gegen den Geist zu verteidi-
gen! Als ob die geringste Gefahr bestünde, daß es je zu geistig zugehen könnte
auf Erden! Die einfachste Generosität sollte dazu anhalten, das schwache
Flämmchen der Vernunft, des Geistes, der Gerechtigkeit zu hüten und zu
schützen, statt sich auf die Seite der Macht und des instinkthaften Lebens zu
schlagen“ (in: Thomas Mann: Leiden und Größe der Meister. Gesammelte
Werke, Frankfurter Ausgabe, hg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt 1982,
 
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