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100 Die Geburt der Tragödie

nicht. Desshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche Scheu vor
Bildern und Gleichnissen; man will hier gerade das Ueberzeugende, das
Glaublich-Machende nicht und fordert vielmehr das kälteste Misstrauen
auch schon durch die Ausdrucksweise und die kahlen Wände heraus: weil das
Misstrauen der Prüfstein für das Gold der Gewissheit ist“ (MA II WS 145; KSA 2,
614, 2—9); „Schopenhauer wandelt nicht ungestraft fast fortwährend unter
Gleichnissen der Dinge, statt unter den Dingen selber“ (MA II WS 214; KSA 2,
647, 21-23).
25, 12 dem Einsichtigen vernehmbar machen.] Hier handelt es sich nicht um
rational, vielmehr durch „die tiefsinnigen Geheimlehren“ vermittelte Einsicht,
sodaß die „Einsichtigen“ als Eingeweihte zu verstehen sind. In seinem späteren
Versuch einer Selbstkritik bezeichnet N. GT selbst „als Buch für Eingeweihte“
(14, 19).
25, 13 ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus] Beide Gottheiten
waren in der Antike wie in der Moderne auf die Kunst, insbesondere auf die
Dichtung bezogen. Hierzu der ausführliche Kommentar zu 25, 4-6, S. 96 f.
25, 16 f. der unbildlichen Kunst der Musik] Der Romantik galt die Musik als
die höchste aller Künste, weil sie gerade aufgrund ihrer Lösung von aller imita-
tio und damit von aller bildlichen Wahrnehmung zum ,Absoluten4 tendiert.
E.T.A. Hoffmann formulierte in mehreren Schriften, darunter in seinen bedeu-
tenden Beethoven-Rezensionen, diese romantische Auffassung der Musik.
Wagner war wie N. ein Hoffmann-Kenner und las mit N. und Cosima zusam-
men in Tribschen dessen Goldnen Topf (Cosima Wagner spielte darauf am
Beginn ihres Briefes vom 21. Januar 1871 an N. an, am 27.5.1871 unterzeichnete
sie ein Telegramm an N.: „Familie Lindhorst“ - mit dem Namen der gleichna-
migen Figur aus dem Goldnen Topf, KGB II 2, Nr. 187, S. 375). Bezeichnender-
weise betonte er in seiner Beethoven-Festschrift von 1870, auf die sich N. im
Vorwort an Richard Wagner bezieht (23, 19), das Unbildliche der Musik und
berief sich ausdrücklich auf Schopenhauer. Schopenhauer war für N. und Wag-
ner die entscheidende Instanz für die kategoriale Unterscheidung zwischen
der „bildlichen“ Kunst, d. h. den traditionellen ,schönen Künsten4 Malerei und
Plastik, und der Musik. Schopenhauer hatte in seinem noch von der Romantik
geprägten Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung (I, 3), das im Jahr 1818,
auf dem Höhepunkt der Romantik erschien, die abbildenden Künste Baukunst,
Malerei und Dichtkunst in § 43-51 behandelt, die Musik in § 52. Er bezeichnet
die Musik als „metaphysische Kunst“. Wagner übernimmt Schopenhauers For-
mulierungen in allem Wesentlichen, ähnlich N., sodaß dieser sich auch mit
Wagner in Übereinstimmung wußte. Wagner schrieb in der Beethoven-Fest-
schrift: „Mit philosophischer Klarheit hat aber erst Schopenhauer die Stel-
 
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