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Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 26 103

Der Glaube an den Rausch. - Die Menschen der erhabenen und verzückten Augen-
blicke, denen es für gewöhnlich, um des Gegensatzes willen und wegen der verschwende-
rischen Abnützung ihrer Nervenkräfte, elend und trostlos zu Muthe ist, betrachten jene
Augenblicke als das eigentliche Selbst, als ,sich‘, das Elend und die Trostlosigkeit als die
Wirkung des ,Ausser-sich‘; und desshalb denken sie an ihre Umgebung, ihre Zeit,
ihre ganze Welt mit rachsüchtigen Gefühlen. Der Rausch gilt ihnen als das wahre Leben,
als das eigentliche Ich [...] Diesen schwärmerischen Trunkenbolden verdankt die Mensch-
heit viel Übles: denn sie sind die unersättlichen Unkraut-Aussäer der Unzufriedenheit mit
sich und den Nächsten, der Zeit- und Weltverachtung und namentlich der Welt-Müdigkeit.
[...] - Zu alledem pflanzen jene Schwärmer mit allen ihren Kräften den Glauben an den
Rausch als an das Leben im Leben: einen furchtbaren Glauben! Wie die Wilden jetzt
schnell durch das ,Feuerwasser“ verdorben werden und zu Grunde gehen, so ist die
Menschheit im Ganzen und Grossen langsam und gründlich durch die geistigen Feuer-
wässer trunken machender Gefühle und durch Die, welche die Begierde darnach lebendig
erhielten, verdorben worden: vielleicht geht sie noch daran zu Grunde.
Wie wechselhaft allerdings N.s Einschätzung des „Rausches“ im Hinblick auf
die Kunst war, zeigt später eine Variante zur Götzen-Dämmerung, KSA 6, 116,
4-117, 8, in der er auch - und nunmehr gründlich - auf die „Physiologie“
eingeht (KSA 14, 424 f.):
Zur Genesis der Kunst. / Physiologisch geredet, ist die Voraussetzung aller Kunst,
[aller künstlerischen Thätigkeit] alles aesthetischen Thuns und Schauens der Rausch. Alle
Kunst geht auf Zustände zurück, wo ein Rausch die Erregbarkeit der ganzen Maschine
gesteigert hat: / das kann der Rausch der Geschlechtserregung sein / oder der Rausch der
Grausamkeit / oder der Rausch der Narcotica / oder der Rausch des Frühlings / : des
Zorns / : der großen Begierde / : der Bravour / : des Wettkampfes / oder der Rausch des
Auges: die Vision / in der Lyrik und Musik ist es die Seligkeit / vor Allem auf eine delikate
[?] Weise in der Tragödie die Grausamkeit / - die extreme Erregung eines Sinnes im
Zustande des Rausches / die Miterregungskraft der verwandten Rauschsphären ... /
Das Wesentliche des Rausches ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle -
man giebt aus dieser Fülle an die Dinge ab d. h. man idealisirt sie / Idealisiren ist
nicht ein Abstrahiren von niederen und geringeren Zügen, sondern ein ungeheures
Heraustreten der Hauptzüge, so daß die anderen dabei verschwinden / man
berauscht Alles aus der eignen Fülle: man sieht es voll, man sieht es gedrängt,
geschwellt von Kraft d. h. man verwandelt die Dinge in den Zustand, wo sie eine Art
Reflex von uns darstellen / Man kann exakt eine antikünstlerische Thätigkeit
ausdenken, welche alle Dinge verarmt, verdünnt, verbleicht: wer sind diese Antiartis-
ten, diese Ausgehungerten, welche von den Dingen noch an sich nehmen und sie mage-
rer machen - / Dies sind die spezifischen Pessimisten: ein Pessimist, der Künstler ist, ist
ein Widerspruch / Problem: aber es giebt pessimistische Künstler! ...
In einer weiteren Variante zur Götzen-Dämmerung, KSA 6, 117, 19-119, 8, hebt
N. sogar die in GT durchgeführte Trennung von dionysischem Rausch und apol-
linischem Traum zugunsten des Rausches auf (KSA 14, 425 f.): „Was bedeutet“,
so fragt er, „der Gegensatz ,dionysisch4 und ,apollinisch4, beide [!] als
Arten des Rausches verstanden?“
 
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