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Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 28 111

es sei, als daß es nicht sei“ (Frauenstädt, Bd. 2, S. 496). Der Begriff „Maya“
(„Zauberkraft“) diente in der Systematisierung des Vedanta durch Shankara
(etwa 788-820) und seine Schule als Grundbegriff der Argumentation gegen
die Vielheit der Erscheinungswelt, die nur vordergründig real, für eine höhere
Einsicht aber Illusion und Verblendung sei. Maya verhülle (daher die Rede
vom „Schleier“) die Identität der Einzelwesen mit dem Brahma. Dieses hat vor
allem in den Brähmana-Texten eine nahezu unbegrenzte Macht und gilt als
Urprinzip der Weltentstehung; in der upanischadischen Auffassung ist es die
alles durchdringende und miteinander vereinende Essenz der Welt, der eine
erlösende Qualität zukommt. Sein Wesen wird als reine Geistigkeit bestimmt.
Im Advaita-Vedänta ist die Entfaltung des Brahma zur Welt prinzipiell illuso-
risch. Schopenhauer lernte diese Lehre in der Übersetzung der Upanishads
durch Anquetil Duperron (1801/1802) kennen. Die erste deutsche Übersetzung
der Sutras des Vedanta und des maßgebenden Kommentars des Shankara
stammt von N.s Freund Paul Deussen, der ebenfalls ein Schopenhauer-Anhän-
ger war: Die Sutras des Vedanta [...] nebst einem vollständigen Kommentar des
Shankara. Aus dem Sanskrit übersetzt (1887).
N. wußte sich mit seinem Rückgriff auf die von Schopenhauer wirkungsvoll
vermittelten vedantischen (vorbuddhistischen) und buddhistischen Lehren
besonders auch mit Wagner einig. Dieser hatte nicht nur Schopenhauer als
Gewährsmann. Er studierte Eugene Burnoufs umfangreiche Abhandlung Intro-
duction ä l’histoire du Buddhisme indien (Paris 1844), das erste Standardwerk
über den Buddhismus, sowie das zweibändige Werk Die Religion des Buddha
und ihre Entstehung des Linkshegelianers Carl Friedrich Koeppen (Berlin 1857-
1859), das N. am 25.10.1870 aus der Universitätsbibliothek Basel entlieh. Da
Wagner in vielen Briefen immer wieder die Grundgedanken des Buddhismus
erörtert, dürfte dieses Thema während der zahlreichen Besuche N.s bei den
Wagners in Tribschen aktuell gewesen sein. In einer Tagebuchaufzeichnung
vom Mai 1868, wenige Monate vor der ersten Begegnung N.s mit Wagner in
Leipzig, notierte dieser in sein Tagebuch den Sanskritbegriff Nirwana, den er
tabellarisch mit ,Nacht4 und ,Wahrheit4 koordiniert, dann Brama (« Dämme-
rung4, ,Musik4) (Wagner, BB, 176). In Wagners Oper Tristan und Isolde, die
schon in den 50er Jahren vollendet und erstmals 1865 in München aufgeführt
wurde, verbindet sich das Nirväna, ähnlich wie schon am Schluß des 1. Bandes
von Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, als seliges Nichts mit
romantischem Entgrenzungsverlangen und einer entsprechenden Liebesmys-
tik. So kommt die ältere Vorstellung der vedischen Philosophie zur Geltung:
die Wiedervereinigung der individuellen Seele (ätman) mit der Weltseele (brah-
man). Hier zeigt sich eine deutliche Affinität zu der in der deutschen Dichtung
und Philosophie vom 18. bis weit ins 19. Jahrhundert hineinreichenden panthe-
 
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