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118 Die Geburt der Tragödie

ebenfalls im negativen Sinne verwendet, nun gegen Vertreter von irrational,
mystisch und idealistisch, insbesondere neuplatonisch inspirierten Strö-
mungen. Kant attackierte zeitlebens das „Schwärmertum“. Die Schwärmerei ist
für ihn eine „Überschreitung der Grenzen der menschlichen Vernunft“ (Kritik
der praktischen Vernunft, AA 7, S. 153), aber auch die Anmaßung, „über alle
Gränze der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen [...] zu wollen“ (Kritik der Urteils-
kraft, § 29, AA 5, S. 275). Wielands gesamtes Werk ist geprägt von der Auseinan-
dersetzung mit dem Schwärmertum im Namen aufgeklärter Vernunft und
natürlicher Sinnlichkeit. Schon der Titel seines ersten Romans ist programma-
tisch: Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abenteuer des Don
Sylvio von Rosalva (1764). In der bald darauf erschienenen ersten Fassung der
Geschichte des Agathon besteht die Schwärmerei der Titelfigur in einem plato-
nischen Idealismus, der im Verlauf der Handlung kuriert wird. Schließlich kri-
tisiert Wielands Altersroman Aristipp und einige seiner Zeitgenossen in einer
langen Auseinandersetzung mit Platon dessen „subtile, schwärmerische, die
Grenzen des Menschenverstandes überfliegende Philosophie“. Dem entspre-
chend nahm Kant in seiner Abhandlung Von einem neuerdings erhobenen vor-
nehmen Ton in der Philosophie (1796) Platon als den „Vater aller Schwärmerei
in der Philosophie“ mitsamt seinen modernen Adepten aufs Korn. Ganz im
Gegensatz dazu, wenn auch mit einem anderen Parameter, wertet N. die „dio-
nysischen Schwärmer“ positiv im Sinn irrationalen „Lebens“.
29,18-25 Unter dem Zauber des Dionysischen schließt sich nicht nur der Bund
zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen: auch die entfremdete, feindli-
che oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlore-
nen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig
nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist
der Wagen des Dionysus überschüttet: unter seinem Joche schreiten Panther und
Tiger.] Diese Partie ist schon auf die folgende hin stilisiert: auf Beethovens
Vertonung von Schillers Gedicht An die Freude im Schlußsatz der Neunten
Symphonie, in dem N. das „Dionysische“ musikalisch repräsentiert sieht.
Zugleich handelt es sich um eine Wagner-Huldigung, denn dieser hatte einen
Bericht über eine von ihm 1846 in Dresden dirigierte Aufführung der Neunten
Symphonie nebst Programm dazu (1846) verfaßt und sich auch später immer
wieder Beethovens Neunter Symphonie zugewandt. Explizit mit der Kategorie
des Dionysischen bedachte Wagner allerdings nur Beethovens Siebte Sympho-
nie. Er schrieb ihr eine geradezu „bacchantische Allmacht“ zu (GSD III, 94).
Die anderen Elemente dieser Partie bilden ein Mosaik aus den antiken Darstel-
lungen des Goldenen Zeitalters. Am bekanntesten sind diejenigen in Vergils
4. Ekloge und in Ovids Metamorphosen, 1. Buch, V. 89-114, mit der utopisch
gefärbten Vorstellung gesellschaftlicher Harmonie („Bund zwischen Mensch
 
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