Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 29 119

und Mensch“) und zugleich einer Harmonie zwischen Mensch und Natur, die
alle Entfremdungserscheinungen der Zivilisation aufhebt. Das Goldene Zeital-
ter steht im Zeichen Saturns. Einmal im Jahr, am 17. Dezember, feierten die
Römer das Fest der Saturnalia, an dem der Unterschied von Herr und Knecht
aufgehoben war und die Sklaven sich völlig frei bewegen durften. In der
berühmtesten Darstellung des saturnischen Goldenen Zeitalters, in Vergils
4. Ekloge, erscheint es als Zeitalter vollkommenen Friedens, das der Dichter
nach den langen Jahren zerstörerischer Bürgerkriege in der Augusteischen Frie-
denszeit wiederkehren sieht („redeunt Saturnia regna“, V. 6). Ebenfalls in der
4. Ekloge preist Vergil das Goldene Zeitalter als einen paradiesischen Urzu-
stand, in dem die Erde alles von selbst hervorbringt („omnis feret omnia tel-
lus“, V. 39), ohne vorausgehende mühselige Bearbeitung („non rastros patietur
humus, non vinea falcem“, V. 40). In N.s Formulierung: „Freiwillig beut die
Erde ihre Gaben“. Wiederum nach dem Vorbild der 4. Ekloge (V. 55) beschwört
N. die Figur des Ursängers und Urmusikers Orpheus herauf, der durch die
Macht seines harmoniestiftenden Gesanges sogar wilde Tiere zähmte, sodaß
sie sich friedlich um ihn versammelten: „friedfertig nahen die Raubthiere der
Felsen und der Wüste“, lautet N.s Version. Diese Anspielung auf den harmonie-
stiftenden Gesang des Orpheus nahm N. in seine Darstellung auf, weil er im
Folgenden Beethovens musikalisches „Evangelium der Weltenharmonie“ feiert.
„Mit Blumen und Kränzen“ ist der „Wagen des Dionysus überschüttet“, weil
er als Gott der Blumen und überhaupt der Vegetation galt; einer seiner Beina-
men war „Antheus“ (von griechisch „Anthos“, „Blume“). In Ovids Fasten
(V. 345) heißt es: „Bacchus liebt die Blumen“ („Bacchus amat flores“). Auch
daß Dionysos auf einem „Wagen“ fährt, der von „Panthern“ oder „Tigern“ gezo-
gen wird, entspricht hellenistischen und römischen Darstellungen. Auf zahlrei-
chen Dionysos-Mosaiken und in der Literatur ist dies ein beliebtes Sujet, so in
Ovids Liebeskunst (ars amatoria), welche die Liebesbegegnung von Dionysos
und Ariadne auf der Insel Naxos poetisch gestaltet und dabei die Ankunft des
Dionysos auf einem mit Tigern bespannten Wagen ausmalt (I, 525-562).
29, 25-29 Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der „Freude“ in ein
Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen
schauervoll in den Staub sinken: so kann man sich dem Dionysischen nähern.]
In der Beethoven-Festschrift von 1870, auf die sich N. schon im Vorwort an
Richard Wagner bezieht, hatte Wagner immer wieder sowohl die Neunte Sym-
phonie thematisiert wie auch Schopenhauers philosophische Anschauungen
miteinbezogen. Diese Doppelkodierung übernimmt N. im Folgenden. Zusätz-
lich verbindet er sie mit Wagners früheren Assoziationen anläßlich der Siebten
Symphonie, die er besonders wegen ihrer rauschhaften Tanzrhythmen als ein
musikalisches Dionysosfest empfand. Dionysos war ja auch der Gott des Tanzes
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften