Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar GT 1, KSA 1, S. 29-30 121

des ursprünglichen Lebens zurück. An seinen Mysterien haben Sklaven und
Freie gleichen Antheil, und vor dem Gotte der stofflichen Lust fallen alle
Schranken, welche das staatliche Leben mit der Zeit zu immer größerer Höhe
erhebt. Das Bewußtsein der einheitlichen Abstammung aus einem Stoffe erhält
den Sieg über die positiven Verschiedenheiten [...]. In allen diesen Richtungen
erweist Dionysos seine Bedeutung als Lyaeus [d. h. als der ,lösende Gott4]“
(Bachofen, GW IV, S. 238 f.).
Daß N. hier nicht etwa im Gegensatz zu seinen politisch-sozialen Ansich-
ten revolutionäre demokratische Gedanken äußert, zeigen die folgenden Aus-
führungen. Darin heißt es, im dionysischen Zustande sei es, „als ob der
Schleier der Maja zerrissen wäre“ (29, 34-30, 1). Demnach intendiert N. ledig-
lich eine metaphorische Illustration von Philosophemen Schopenhauers -
überdies nur im Modus eines Als-ob. Wie auch in dem angeführten Passus aus
Bachofens Schrift geht es darum, das „Prinzip der Individualität“: das von
Schopenhauer und auch von N. selbst in GT beschworene „principium indivi-
duationis“ aufzuheben.
29, 29-31 jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die
Noth, Willkür oder „freche Mode“ zwischen den Menschen festgesetzt haben.] In
Schillers Lied An die Freude heißt es: „Deine Zauber binden wieder, / was die
Mode streng getheilt“. Beethoven ließ im Schlußchor der Neunten Symphonie
diesen Text zunächst unverändert singen, um dann aber, wie Wagner in seiner
Beethoven-Festschrift hervorhebt, „nach ungeheurer Steigerung der dithyram-
bischen Begeisterung“ den Text für das Unisono verschärfend abzuwandeln:
„Was die Mode frech geteilt“. Auf diese Verschärfung legte Wagner in seiner
Beethoven-Festschrift so großen Wert, daß er ihr eine längere Partie widmete
(GSD IX, 122). Er akzentuierte sie zivilisationskritisch-antifranzösisch und
folgte damit der insgesamt antifranzösischen Tendenz seiner Festschrift, die
noch während des deutsch-französischen Krieges erschien.
30,1 f. vor dem geheimnissvollen Ur-Einen] Vgl. 30,11 f.: „zur höchsten Wonne-
befriedigung des Ur-Einen“. Diese wiederholte Beschwörung des „Ur-Einen“,
der zahlreiche synonyme Vorstellungen in GT entsprechen, erinnert zunächst
an das älteste Zeugnis der griechischen Naturphilosophie: an den Spruch des
Anaximander, demzufolge aus einem unzugänglichen (N. sagt: „geheimniss-
vollen“) Urgrund, dem otnEipov, die individuellen Formen und Qualitäten des
Lebens hervorgehen, um dann im Laufe der Zeit wieder in diesen Urgrund
zurückzukehren und so den Frevel der Individuation zu „büßen“. In seiner
nachgelassenen Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, die
wenig später entstand, geht N. ausführlich auf Anaximander ein (4. Kapitel,
KSA 1, 817-822). Schopenhauer bot ein analoges Denkmuster mit der - von N.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften