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Stellenkommentar GT 3, KSA 1, S. 33-34 139

Gefühle“, S. 188-201. Hierzu die Fragmentgruppe 3, Winter 1869/70-Frühjahr
1870 sowie KSA 1, 572 ff. Dieser gedankliche Duktus setzt sich im 3. Kapitel
über mehrere Abschnitte hinweg fort: Der dionysischen Sphäre des „Willens“
und des „Unbewußten“, die unter der Oberflächenschicht des Apollinischen
zum Vorschein kommen soll wie das Eigentliche unter einem „Schleier“ (Scho-
penhauers „Schleier der Maja“), entspricht im 1. Abschnitt das Vordringen vom
Überbau zu den „Fundamenten“ und den „Wurzeln“: 34, 14-17: „Um dies zu
begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Gebäude der apollinischen Cul-
t u r gleichsam Stein um Stein abtragen, bis wir die Fundamente erblicken, auf
die es begründet ist“; 35, 28 f.: „Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische
Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln“. Mit dem wiederholten „gleichsam“
setzt sich die statt auf Nachweisen auf Analogisierungen und Metaphern beru-
hende Darstellung fort. Sie wird vertieft durch eine Strategie der Psychologisie-
rung, etwa wenn schon im 1. Abschnitt vom „Trieb“ (34, 23) und vom „Bedürf-
niss“ (34, 26) die Rede ist.
Das thematische Zentrum dieses Kapitels bildet die Allegorisierung der
griechischen Kultur nach der Grundkonzeption Schopenhauers, derzufolge Lei-
den und Schmerz in der Form des „Willens“ der eigentliche und primäre
Zustand des Daseins sind, das sich zur Entlastung in der Sphäre der künstleri-
schen „Vorstellungen“ (N. setzt sie mit der olympischen Götterwelt gleich) eine
illusionierende Verklärung im schönen Schein schafft. Der zentrale Satz, der
diese Allegorisierung auf den Nenner bringt, lautet (36, 14-18): „Wie anders
hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden
so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe,
von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre“.
Der letzte Satz des Kapitels verleiht dieser Konzeption abschließenden Nach-
druck, indem er das „Leiden“ und die „Weisheit des Leidens“ in dieser Korrela-
tion hervorhebt (38, 4-7). Die „Weisheit des Leidens“ ist das fortbestehende
Bewußtsein vom leidhaften Grundzustand des Daseins, das N. schon vorher
als „griechische Volksweisheit“ in der alten Sage von König Midas und dem
Silen darstellt (35,10-24). Das „Leiden“ als Problem von Schopenhauers Philo-
sophie reflektiert N. in mehreren nachgelassenen Fragmenten ausführlich,
besonders in der Zeit zwischen Ende 1870 und April 1871; so in NL 1870/1871,
KSA 7, 7[2O1], 214-216 und in NL 1870/1871, KSA 7, 7[204], 216 f.
34,17-20 Hier gewahren wir nun zuerst die herrlichen olympischen Götter-
gestalten, die auf den Giebeln dieses Gebäudes stehen, und deren Thaten in
weithin leuchtenden Reliefs dargestellt seine Friese zieren.] Das „kunstvolle
Gebäude der apollinischen Cultur“, von dem im vorangehenden Satz
metaphorisch die Rede war, wird nun am Beispiel des Parthenon sinnfällig
gemacht: an dem 447-438 v. Chr. unter Perikies erbauten Tempel auf der Akro-
 
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