Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar GT 3, KSA 1, S. 34-35 141

und die „Pflicht“, die N. ebenfalls als Leitgedanken des Christentums hervor-
hebt, weisen in den engeren Bereich der „Moral“, die er dann mitsamt dem
Christentum in seinen späten Schriften bekämpft. Insofern liegt hier schon ein
erster Ansatz zu seinen später ins Zentrum rückenden Anliegen.
Die Rede von den „Olympiern“ erinnert vor allem an Homers Darstellung,
derzufolge die Götter ihren Sitz auf dem Olymp haben und sich dort in ewiger
Heiterkeit ihres unsterblichen Daseins erfreuen. Dabei geben sie sich jenseits
moralischer Kategorien auch durchaus irdischen Vergnügungen hin. So amü-
siert sich der oberste Gott Zeus in bunt ausfabulierten Liebesabenteuern mit
zahlreichen Menschenfrauen, und die ganze olympische Götterwelt bricht in
Gelächter aus, als die Liebesgöttin Aphrodite mit dem Kriegsgott Ares in fla-
granti ertappt wird.
35, 1-3 hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem
alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist] Die letzten
Worte sind schon ein deutlicher Vorklang der späten Schrift Jenseits von Gut
und Böse. Bereits der junge Goethe, mit dessen Schriften N. von früh an ver-
traut war, hatte Gut und Böse als moralische Kategorien in einer spinozistisch
gedachten All-„Natur“ aufgehoben und als ihr immanente Polarität begriffen.
„Alle deine Ideale sollen mich nicht irre führen, wahr zu seyn, und gut und
böse wie die Natur“, schrieb Goethe am 22. Februar 1776 an den christlich-
moralisch eifernden Lavater. Und schon in Goethes Rede Zum Shakespears-Tag
von 1771 heißt es, mit einer Anspielung auf Spinoza: „Das was edle Philoso-
phen von der Welt gesagt haben, gilt auch von Shakespearen, das, was wir bös
nennen, ist nur die andre Seite vom Guten (FA I, Bd. 18: Johann Wolfgang
Goethe, Ästhetische Schriften 1771-1805, hg. von Friedmar Apel, Frankfurt 1998,
S. 12).
35, 7 f. Helena, das „in süsser Sinnlichkeit schwebende“ Idealbild ihrer eignen
Existenz] Zunächst eine Anspielung auf Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre,
4. Buch, Kapitel 14, wo Wilhelm Meister über Ophelia sagt: „Ihr ganzes Wesen
schwebt in reifer süßer Sinnlichkeit“. Da unmittelbar vorher (35, 5) vom „Zau-
bertrank im Leibe“ die Rede ist, handelt es sich auch um eine Anspielung auf
Goethes Faust I, V. 2603 f., wo Mephistopheles zu Faust, dem die Hexe in der
Szene ,Hexenküche4 den sinnlich erregenden Zaubertrank verabreicht hat, die
Worte spricht: „Du siehst, mit diesem Trank im Leibe, / Bald Helenen in jedem
Weibe“; dann aber dürfte N. auch an die zentrale Funktion gedacht haben, die
der Figur der Helena im dritten Akt des Faust II zukommt: Sie repräsentiert
die Antike als eine kulturelle Sphäre diesseitiger Daseinserfüllung, sinnlicher
Gegenwart und Schönheit.
35, 9-12 Diesem bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen wir aber zuru-
fen: „Geh’ nicht von dannen, sondern höre erst, was die griechische Volksweisheit
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften