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Stellenkommentar GT 3, KSA 1, S. 35-37 145

als Wille und Vorstellung. N. gibt damit explizit zu erkennen, daß alle vorange-
henden Ausführungen sich an Schopenhauers Hauptwerk orientieren.
36, 31-33 vom kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und
Wandel des Menschengeschlechts] Homer nennt Achilles „kurzlebend“ (Ilias,
1. Gesang, V. 352); im 6. Gesang der Ilias stehen die Verse (146-149): „Gleich
wie Blätter im Walde, so sind die Geschlechter der Menschen, / Einige streut
der Wind auf die Erd hin, andere wieder / Treibt der knospende Wald, erzeugt
in des Frühlinges Wärme; / So der Menschen Geschlecht; dies wächst und
jenes verschwindet“ (Übersetzung von Johann Heinrich Voß).
36, 33-37,1 Es ist des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterle-
ben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner.] Homer erzählt im 11. Gesang der
Odyssee, wie Odysseus in die Unterwelt hinabsteigt und dort den Schatten der
toten Helden begegnet, unter ihnen dem Schatten Achills. Dieser sagt zu ihm
(V. 489-491): „Lieber möcht ich fürwahr dem unbegüterten Meier, / Der nur
kümmerlich lebt, als Tagelöhner das Feld baun, / Als die ganze Schar vermo-
derter Toten beherrschen“ (Übersetzung von Johann Heinrich Voß).
37, 5-11 Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren
Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie, ja Einheit des Menschen mit
der Natur, für die Schiller das Kunstwort „naiv“ in Geltung gebracht hat, keines-
falls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher
Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Mensch-
heit begegnen müssten] Schiller setzt in seiner 1795/96 erschienenen Abhand-
lung Über naive und sentimentalische Dichtung den Begriff des „Naiven“ dia-
lektisch so ein, daß er sich nur vom Gegenbegriff des „Sentimentalischen“
her definiert - und umgekehrt. Seine zentrale Bestimmung lautet: „Sie [die
„Alten“, d. h. die naiven Griechen] empfanden natürlich, wir empfinden das
Natürliche“; folglich seien wir sentimentalisch. Dementsprechend heißt es im
Hinblick auf die Dichter: „Der Dichter [...] ist entweder Natur, oder er wird
sie suchen. Jenes macht den naiven, dieses den sentimentalischen Dichter“
(Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u. a.,
Band 8: Theoretische Schriften, hg. von Rolf-Peter Janz, Frankfurt 1992, S. 7X1
und S. 732). N. biegt aber Schillers Begriff des Naiven (und damit auch implizit
den des Sentimentalischen) für seine völlig andere Darstellungsintention
zurecht. Zwar wendet er sich im Folgenden wie Schiller gegen den Rousseauis-
mus der Sturm- und Drang-Epoche und gegen den rousseauistisch gefärbten
Homer-Kult der Zeit, wie er etwa in Goethes Werther zum Ausdruck kommt;
aber solch rousseauistischer „Naivität“, die auf eine idyllisierte „Natur“ (37, 13)
fixiert ist, stellt er eine in der „Kunst“ (37, 15) sich manifestierende Naivität
entgegen, die er als Wirkung einer „apollinischen Cultur“ bezeichnet, und
 
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