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Stellenkommentar GT 5, KSA 1, S. 42-44 159

Chorlyrik, wurde also entweder von einem Einzelsänger oder von einem Chor
vorgetragen und von Instrumenten begleitet. Solche Instrumente waren vor-
nehmlich die Kithara und die Flöte (Aulos). N.s Aufzeichnungen zu seiner Vor-
lesung über die griechischen Lyriker beginnen mit folgenden Feststellungen:
„Um uns zunächst über die charakteristischen Merkmale der griechischen
Lyrik zu orientieren: so müssen wir uns vor allem von einer Vorstellung losma-
chen, auf welche unsre Gewohnheit und die ganze moderne Lyrik hindrängt,
als ob nämlich der Lyrische Dichter sich an ein lesendes Publikum wen-
det. Die ganze griechische Lyrik und überhaupt die gesammte Poesie der klas-
sischen Periode des Hellenenthums kennt aber keinen Leser, sondern immer
nur einen Hörer [...] Die griechische Lyrik also verlangt den Vortrag und zwar
den musikalischen. Dies ist der zweite Punkt, wo wir den Gegensatz der
modernen Welt spüren. Die Griechen lernten ein Lied gar nicht anders kennen
als durch den Gesang. Und zwar empfand man hier die strengste Zusammenge-
hörigkeit. Wenn uns das Lied eines Dichters, mit den Tönen eines Componisten
vorgeführt wird, so kommen wir fast nie mehr zum Gesammtgefühl, sondern
genießen das Musikalische für sich und das Dichterische für sich [...] Bei den
Griechen gehörte aber Text und Musik so eng zusammen, daß ein und derselbe
Künstler ohne Ausnahme beides schuf. Dies ist übrigens auch nichts unge-
wöhnliches: denken wir an die Troubadours, an die Minnesänger“ (KGW II 2,
107 f.).
43, 31-44, 3 so können wir jetzt, auf Grund unsrer früher dargestellten aestheti-
schen Metaphysik, uns in folgender Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst, als
dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Wider-
spruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik, wenn
anders diese mit Recht eine Wiederholung der Welt und ein zweiter Abguss der-
selben genannt worden ist] Am Ende dieses Passus läßt sich ein impliziter Zwei-
fel („wenn anders diese [die Musik] mit Recht“) an Schopenhauers musikästhe-
tischer Terminologie erkennen. Diese ist problematisch, weil Schopenhauer
zwar die amimetische Musik grundsätzlich von den mimetischen Künsten -
von bildender Kunst und Dichtung - unterscheidet, dennoch aber auch die
Musik als Mimesis versteht: nicht als zweitrangige Mimesis, wie die anderen
Künste (die er als Mimesis der „platonischen Ideen“ der Erscheinungswelt auf-
faßt), sondern als höherrangige Mimesis, weil sie Mimesis des Dings an sich
sei, das er als „Willen“ bezeichnet. Die Musik, schreibt Schopenhauer in der
Welt als Wille und Vorstellung I (3. Buch, § 52, Frauenstädt, Bd. 2, S. 304), sei
unmittelbares „Abbild des Willens selbst“ und „deshalb eben ist die Wirkung
der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der anderen
Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen“. Das Problem
liegt in der paradoxen Verbindung der Rede vom „Unmittelbaren“ der amimeti-
 
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