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160 Die Geburt der Tragödie

sehen Musik und dem dennoch vorhandenen mimetischen Bezug zur wesen-
haften Sphäre jenseits der Erscheinungen. Diese Paradoxie wiederholt sich bei
N., indem er hier (44, 1) die Musik ein „Abbild dieses Ur-Einen“ und sogar
einen „Abguß“ nennt. Im Folgenden (44, 3-9) versucht er die Paradoxie aufzu-
lösen, indem er den „bild- und begrifflosen Wiederschein des Urschmerzes
[des „Willens“] in der Musik“ trotz solcher ,Bildlosigkeit‘ mit der Vorstellung
einer bildhaften Sphäre („in einem gleichnissartigen Traumbilde“,
44, 4 f.) zu vereinen sucht und mit Begriffen wie „Gleichnis“ und „Spiegelung“
operiert. Dabei legt er Schopenhauers Theorie von der „Erlösung im Scheine“
(44, 7) zugrunde. Schopenhauer spricht von dem in der Sphäre der ästheti-
schen „Vorstellung“ sich selbst von seiner unseligen Triebverfallenheit - für
kurze Zeit - erlösenden „Willen“.
44,13-15 Das „Ich“ des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins: seine
„Subjectivität“ im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung.] Abschluß
der Überlegungen, die mit 42, 32-43, 6 beginnen, wo N. gegen den „subjectiven
Künstler“ der neueren Ästhetik Stellung bezieht. Der nun scheinbar unvermit-
telte Übergang von der „Musik“ zum „Lyriker“ erklärt sich daraus, daß N. die
griechische Lyrik, als deren Repräsentanten er Archilochos wählt, wesentlich
als musikalische Kunst bestimmt. Vgl. NK 43, 27-30.
44,15-17 Wenn Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende Liebe
und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Lykambes kundgiebt] Es han-
delt sich um einen festen Bestandteil der antiken Archilochoslegende, der im
19. Jahrhundert biographisch ernstgenommen wurde und als Zeugnis für die
maßlose Leidenschaftlichkeit dieses griechischen Lyrikers galt, so in der
Geschichte der griechischen Literatur von Karl Otfried Müller (Bd. 1, S. 238 f.)
und im Grundriß der Griechischen Litteratur von Gottfried Bernhardy (Bd. II,
Halle 1845, S. 332 und S. 335 f. mit Angabe der antiken Quellen).
44, 19-22 wir sehen Dionysus und die Mänaden, wir sehen den berauschten
Schwärmer Archilochus zum Schlafe niedergesunken - wie ihn uns Euripides in
den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoher Alpentrift, in der Mittagssonne -]
Euripides läßt in den Bakchen einen Hirten berichten (V. 677-688), daß er die
Mänaden auf der Höhe des bei Theben gelegenen Waldgebirges Kithairon in
der Sonne schlafend gesehen habe. Diese Szenerie assoziiert N. mit dem diony-
sisch „berauschten“ Archilochos - von diesem ist ein Fragment überliefert, in
dem er sich als einen vom Weinrausch inspirierten Dichter darstellt, der zu
Ehren des Dionysos einen Dithyrambos singt. Vgl. NK 28, 34-29, 5. Der Grund
für N.s Assoziation ergibt sich aus dem Folgenden: Den Archilochos imaginiert
er in Analogie zu den Bakchen der Gebirgsszene als schlafend, sodaß sich mit
dem Rausch der Traum, mit dem Dionysischen das Apollinische verbindet,
 
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