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164 Die Geburt der Tragödie

„moralischen“ Phänomen (womit implizit die Vorstellung einer moralischen
Rechtfertigung der Welt gemeint ist) unterscheidet: „das Werden ist kein mora-
lisches, sondern nur ein künstlerisches Phänomen“ (KSA 1, 869, 15-17). Vgl.
hierzu den weiteren Kontext (869, 8-870, 3) sowie NK 87, 9-12.
48, 6 Schauspieler] In der Erstausgabe von 1872 steht: Acteur (KSA 14, 48).
6. Kapitel
Dieses Kapitel behandelt wie schon das vorherige die Lyrik, um mit deren Ver-
ständnis als „Musik“ einen Übergang zur Thematisierung der Tragödie in den
folgenden Kapiteln zu schaffen, die der Tragödie eine Geburt „aus dem Geiste
der Musik“ zuschreiben. Wie in GT 5 wird das Verhältnis von Musik und Spra-
che mit demjenigen von „Ur-Einem“ und Erscheinung analogisiert und damit
wiederum auf der Folie von Schopenhauers Konstellation von „Wille“ und
„Vorstellung“ interpretiert. Problematisch ist nicht nur diese mehrfache Analo-
giebildung, sondern auch die Gleichsetzung der von Archilochos repräsentier-
ten frühgriechischen Lyrik mit dem Volkslied, ferner die Anwendung von Scho-
penhauers metaphysischem Musikbegriff auf dasselbe. N. kombiniert sie noch
mit Herders Theorie vom Ursprung der Sprache und mit dessen Theorie vom
ursprünglichen und schöpferischen Wesen des „Volkes“, das im Volkslied sei-
nen Ausdruck finde. Die deutsche Volksliedbewegung ging von Herder aus
und erreichte in der von N. ausdrücklich genannten (49, 4f.) romantischen
Sammlung Des Knaben Wunderhom ihren Höhepunkt. Maßgebend war für N.
trotz seiner eigenen antidemokratischen und antisozialen Ansichten, daß Wag-
ner in mehreren Schriften die romantische Hochschätzung des „Volks“ und
seiner schöpferisch-unbewußten Fähigkeiten fortführte - vgl. Das Kunstwerk
der Zukunft (GSD III, 50-55). Die Konzentration auf den „Ursprung“ und das
„Ursprüngliche“, die sich auch in der Vorliebe für Wortzusammensetzungen
mit „Ur-“ zeigt, ist nicht nur für dieses Kapitel, sondern für die Tragödienschrift
insgesamt charakteristisch. Auch die Vorstellung der „Geburt“ und des „Gebä-
rens“ gehört in diesen Horizont. N. schloß sich damit Wagner an, der eine
besondere Vorliebe hierfür hatte. Vgl. NK 49, 6 f.
48, 8-10 In Betreff des Archilochus hat die gelehrte Forschung entdeckt, dass
er das Volkslied in die Litteratur eingeführt habe] In dem von N. zum Thema
,Lyrik4 immer wieder herangezogenen Werk von Rudolf Westphal, Geschichte
der alten und mittelalterlichen Musik, Breslau 1864, heißt es S. 116 f.: „Sollen
wir nun die Compositionen des Archilochus im Gegensätze zu denen seiner
Vorgänger Terpander und Klonas bezeichnen, so werden wir wohl sagen dür-
 
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